Wenn die ersten Töne der Posaunen von „Machet die Tore weit“ um 23 Uhr am Heiligen Abend in der Bahnhofshalle erklingen, verändert sich die Atmosphäre.
„Normalerweise herrschen hier Eile und Hektik, aber für diese eine Stunde ist es, als stünde die Zeit still“, beschreibt Rudolf Neumann die Stimmung. „Es entsteht eine besondere Energie und Gemeinschaft, hier begegnen sich Familien, Alleinstehende, Geschäftsleute, Obdachlose“.
Neumann ist Leiter und Dirigent des Posaunenchors der Stadtmission Hannover. Der Posaunenchor spielt in Kirchen, Seniorenstiften, Pflegeeinrichtungen zu Anlässen aller Art und auch im öffentlichen Raum, zum Beispiel in der Adventszeit.
Weihnachtliches Willkommen
Seit mehr als 20 Jahren dirigiert der 53-Jährige ehrenamtlich dieses besondere Weihnachtskonzert. Geboren wurde er in Kasachstan und kam mit neun Jahren mit seiner Familie nach Deutschland. „Das gemeinsame Musizieren und Singen hat in der heutigen Zeit etwas Stärkendes und Tröstliches", findet Neumann. „Ein Jahr gab es starkes Glatteis und viele Reisende waren gestrandet und bekamen so an unerwarteter Stelle ein Stückchen Weihnachten, Hoffnung und Zuversicht geschenkt“, erinnert er sich.
Die Tradition des Weihnachtskonzerts reicht bis 1950 zurück. Der Vahrenwalder Posaunenchor gab damals ein kleines Weihnachtskonzert für die Spätheimkehrer aus russischer Gefangenschaft, um sie wieder in der Heimat willkommen zu heißen. In den folgenden Jahren wiederholten die Hannoveranerinnen und Hannoveraner das Konzert und kamen an diesem ungewöhnlichen Ort an Heiligabend zum Singen zusammen. Auch die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium wird vorgelesen und eine kleine Andacht gehalten.
An die 1.000 Besucherinnen und Besucher kommen mittlerweile jedes Jahr: „Manche kommen aus Hildesheim, Göttingen oder sogar aus Kaiserslautern“, erzählt Neumann. Hier singen sie gemeinsam Weihnachtslieder. Der Posaunenchor hat Klassiker wie „O du fröhliche“ und neuere Stücke wie „Stern über Bethlehem“ im Repertoire. Natürlich dürfen auch „Tochter Zion" und „Stille Nacht“ im Programm nicht fehlen.
Manchmal gibt es aber auch eine musikalische Überraschung: Vor ein paar Jahren hat eine Frau mitgespielt, die an diesem Tag Geburtstag hatte: „Da habe ich dann auch ein ‚Happy Birthday' angestimmt: eines für die Bläserin und eines für Jesus", erzählt Neumann.
Auch wenn der Posaunenchor durch die Corona-Pandemie einige Jahre reduziert auftreten musste und das Konzert 2020 ganz ausgefallen war, sind die Zuschauerzahlen in den vergangenen Jahren nicht zurückgegangen. Zwischen 60 bis 80 Bläserinnen und Bläsern musizieren mittlerweile zusammen.
Eine Besonderheit: „Die Teilnehmenden üben nicht zusammen, sie kommen am Heiligabend erstmals aus verschiedenen Posaunenchören zusammen", erklärt Neumann. Denn jedes Jahr lädt der Posaunenchor der Stadtmission Hannover etwa 60 Posaunenchöre aus Stadt und Umland Hannover ein, um zusammen am Heiligabend im Hauptbahnhof zu musizieren.
Für einige Zuschauerinnen und Zuschauer sei das Konzert der Abschluss des Heiligen Abends, nach der Bescherung und dem gemeinsamen Essen. „Für mich ist das anders, wenn wir das ‚Halleluja‘ aus Händels Weihnachtsoratorium spielen, bekomme ich jedes Jahr eine Gänsehaut. Dann erst ist für mich Heiligabend, dann ist Weihnachten“, so Rudolf Neumann.