Marcus Christ: Kirchlicher Leiter bei Polizei und Zoll

„Ich bin Kirche vor Ort – mal als Ethiker, mal als Liturg und mal als Seelsorger.“
Drei männlich gelesene Personen stehen in Polizeiuniform vor einem Streifenwagen
Bild: Tanja Niestroj

Polizeiseelsorge – diese Aufgabe verbinden die meisten Menschen mit dem Überbringen schlechter Nachrichten. Marcus Christ hat Anfang des Jahres die Leitung des Kirchlichen Dienstes in Polizei und Zoll übernommen. In den kommenden Monaten lernt er die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in Niedersachsen kennen.

In seinem neuen Job legt Marcus Christ den Fokus vorrangig auf Beamte in Uniform, steht ihnen seelsorglich zur Seite, bietet nach belastenden Einsätzen Betreuung und Gespräche an. „Ich mische mich nicht in den Polizeidienst ein, sondern warte ab, bis man meine Hilfe anfordert“, erklärt der Pastor. 

Wir haben Marcus Christ durch „eine Schicht“ im Streifenwagen begleitet. Gemeinsam mit den beiden Polizeibeamten Henri, 24 Jahre alt, und dem 28-jährigen Jannes ging es im Polizeibulli durch den Südwesten von Hannover.

Jannes und Henri sehen in Marcus Christ eine enorme Bereicherung und Unterstützung im Arbeitsalltag. Der Jüngere der beiden ist seit drei Jahren im Polizeidienst, der Ältere seit fünf Jahren. „Bislang hat mich meine Familie aufgefangen, wenn ich Druck verspürt habe oder nach einem schwierigen Einsatz jemanden zum Reden brauchte“, erzählt Henri. Der Gedanke, dass es jemanden gibt, dem man von den Dingen erzählen könnte, die einem schwer auf der Seele liegen, beruhigt den jungen Mann. Und er selbst schließt nicht aus, Christs Angebot eines Tages selbst in Anspruch zu nehmen.

Drei männlich gelesene Personen in Polizeiuniform.
Bild: Tanja Niestroj
„Ich mische mich nicht in den Polizeidienst ein, sondern warte ab, bis man meine Hilfe anfordert“, erklärt der Pastor Marcus Christ (Mitte).

Schon während seines Vikariats in Edewecht hat sich Marcus Christ als Beauftragter für Notfallseelsorge der Johanniter-Unfall-Hilfe Weser-Ems engagiert, nach einer Zeit als Gemeindepfarrer war er acht Jahre Militärpfarrer in Nordholz. „Danach habe ich zwölf Jahre lang im Evangelischen Militärpfarramt Rostock für die Marineseelsorge gearbeitet, vier Jahre davon in leitender Funktion, bevor ich mich in Systemischer Beratung ausbilden lassen habe“, erzählt der Vater zweier Kinder. 2018 übernahm er eine Stelle als Gemeindepfarrer, zuletzt in Cuxhaven.

Reden hilft!

Einsatzkräfte greifen oft zur Waffe, zielen aber nur selten auf Menschen. „Fallen jedoch tatsächlich Schüsse aus der Dienstwaffe auf Menschen, wird gegen denjenigen, der geschossen hat, grundsätzlich ermittelt“, klärt Marcus Christ auf. Warum Betroffene die Polizeiseelsorge in diesen Fällen besonders zu schätzen wissen, dafür hat der Pastor eine Erklärung. „Wir sind zur Verschwiegenheit verpflichtet. Zudem gibt es für uns als Seelsorger keine Berichtspflicht, denn wir sind bei der Kirche und nicht bei der Polizei angestellt“, erläutert er. „Ich bin sozusagen Kirche vor Ort – mal als Liturg, mal als Seelsorger und mal als Ethiker.“

Aber gelten Polizisten nicht gemeinhin als unnahbar und furchtlos? „Wird die Schusswaffe als allerletzte Möglichkeit genutzt, weil man sich selbst oder andere in einer ernsten Bedrohung für Leib und Leben gegenübersieht, macht das etwas mit einem. Da muss sich niemand schämen, anschließend das Gespräch mit der Seelsorge zu suchen“, weiß Jannes.

„Ob Schutzmann oder Seelsorger – am Ende ist es die Kunst, mit Menschen umzugehen, die unseren Beruf ausmacht.“
Marcus Christ

An diesem Nachmittag bleibt jedoch alles friedlich, die beiden Polizisten zeigen Präsenz auf der Straße und schauen auf dem Weg in einer Notschlafstelle für obdachlose Menschen vorbei. Eine der Personen, für die ein Bett bereitsteht, ist abgängig, aber auf Medikamente angewiesen. Die beiden Beamten bekommen Hinweise, wo sich der ehemalige Straftäter aufhalten könnte. In der Bildergalerie des polizeilichen Fahndungssystems lässt sich ein rund 20 Jahre altes Foto finden. Die Suche dürfte also in eine Art Sisyphusarbeit münden.

Doch gleich hinter dem hannoverschen Hauptbahnhof, einem Schwerpunkt der Drogenkriminalität in der Landeshauptstadt, entdeckt Henri den Gesuchten im Vorbeifahren. Seine Vergangenheit sieht man dem Mann nicht an. Seelenruhig erklärt er den Beamten, dass er längst ohne Tabletten auskomme und eine Übernachtungsmöglichkeit bei Freunden gefunden habe. Obwohl es dem Mann augenscheinlich gut geht, überlegen Jannes und Henri, Sanitäter anzufordern, um den Gesundheitszustand des Gesuchten checken zu lassen.

Diese besonders sensible Art und Weise polizeilicher Arbeit ist der Mann offenbar nicht gewohnt und beginnt den beiden unterschwellig zu drohen, als sich Markus Christ doch einmischt. Er stellt mit Professionalität die Sichtweisen von Polizei und Gesuchtem gegenüber und so gelingt es schließlich, das Misstrauen des Angesprochenen aufzulösen. „Ich gehöre zum System, bin aber keiner von ihnen, sondern unterstütze Polizisten und Polizistinnen“, sagt Marcus Christ. „Die Beamten können sich direkt an mich wenden, unabhängig davon, ob sie einer Kirche angehören oder Interesse an religiösen Themen haben.“

Drei männlich gelesene Personen in Polizeiuniform. Auf dem Rücken steht Polizeiseelsorge
Bild: Tanja Niestroj
Polizeibeamter Jannes hat in seinem Arbeitsalltag immer wieder erlebt, dass der Respekt vieler Menschen gegenüber anderen, auch den Beamten, verloren gegangen sei.

Vorfälle, wie beispielsweise die tödliche Messerattacke in Mannheim, gehen auch an den Kolleginnen und Kollegen in Hannover nicht spurlos vorbei. „Ich kann mir gut vorstellen, wie der Dienst an dem verhängnisvollen Tag abgelaufen ist, aber im Alltagsgeschäft rechnet man einfach nicht mit so einem brutalen Angriff“, erklärt Jannes und stellt fest, dass der Respekt vieler Menschen gegenüber anderen, auch den Beamten, verlorengegangen sei. Die beiden jungen Polizisten versuchen in ihrem Streifendienst, Aggressionen ihres Gegenübers durch Gelassenheit aufzulösen. 

Durch die Ausbildung, in der berufsethische Perspektiven eine Rolle spielen, werden sie auf sämtliche Einsatzsituationen vorbereitet. Ein wesentliches Instrument ist die Sprache, um Täter davon abzubringen, überhaupt Gewalt anzuwenden. Auch die Wertehaltung spielt immer eine Rolle. „Nur so kann es gelingen, die Täter abzuholen und ein klärendes Gespräch aufzubauen“, sagt Henri.

Das zeigt sich beim nächsten Einsatz. Die Zentrale meldet eine Frau, die auf einer Straßenkreuzung sitzt und Vorbeikommende angeblich mit wüsten, neonazistischen Schimpftiraden belästigt. Vor Ort stellt sich die Situation anders dar. Die gebürtige Kroatin hockt, von Kummer gezeichnet, in einem Hauseingang. Durch eine Persönlichkeitsstörung lasse sie sich schnell provozieren, reagiere mitunter aggressiv, erklärt sie den Beamten. Sie selbst fühle sich immer wieder Anfeindungen aus der Nachbarschaft ausgesetzt. Jannes und Henri bieten ihr ein Gespräch mit der Kontaktbeamtin der Ricklinger Wache an.

Umgang auf Augenhöhe

Nur wenige hundert Meter weiter stoppen Jannes und Henri erneut. Ein stark angetrunkener Mann ist mit dem Fahrrad an einer viel befahrenen Straße gestürzt. 3,8 Promille Alkohol in der Atemluft und eine Schürfwunde – Grund genug für die Beamten, sich zur Wache begleiten zu lassen. Und wieder einmal sprechen Jannis und Henri den Verunfallten auf Augenhöhe an, leisten Überzeugungsarbeit und versorgen die Verletzungen. Marcus Christ hört wieder einmal zu – und tröstet.

Auf der Abendrunde geht es zu einem der Lost Places in Limmer, das verlassene Fabrikgelände der Continental-Werke. Das Areal ist ein beliebter Treffpunkt für junge Leute. So auch für drei Männer, die es sich mit Pizzen und Bier auf einer der historischen Kranbrücken gemütlich gemacht haben. Und wieder genügt eine entschlossene, aber freundliche Ansprache von Jannes und Henri, die das Trio zum Abstieg bewegen. Sie lassen sich am Kanalufer nieder. „Ob Schutzmann oder Seelsorger – am Ende ist es die Kunst, mit Menschen umzugehen, die unseren Beruf ausmacht“, sagt Marcus Christ.

 

Tanja Niestroj/EMA