„Bei Macht und Gewalt ist die Grenze sofort erreicht“
In jüngster Zeit gibt es immer wieder Berichte zu übergriffigem Verhalten unter Kita-Kindern. Im Februar machte zudem in Berlin ein Papier Schlagzeilen, in dem es um körperliche „Erfahrungsräume“ ging. Wie sehen Experten Körpererkundungen unter Kita-Kindern?
Bremen. Der Bremer Diplom-Pädagoge Carsten Schlepper, Vorstandsvorsitzender der Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder, sprach mit dem Evangelischen Pressedienst über Normalität, Grenzen und Verantwortung.
Herr Schlepper, wenn Kinder im Kita-Alter gegenseitig ihre Körper erkunden: Was ist in Ordnung, was ist übergriffig?
Carsten Schlepper: Zunächst einmal: Die Neugierde und gegenseitige Körpererkundungen in diesem Alter sind völlig normal. Kinder lernen mit allen Sinnen, auch, was die geschlechtlichen Unterschiede angeht. Im Kita-Alter werden sich Kinder immer mehr ihrer selbst bewusst. Da sind auch Rollenspiele wichtig, in denen es aber längst nicht nur um den Intimbereich geht. Dann spielen auch Beobachtungen zu Hause eine Rolle beispielsweise beim Papa, der den Bauch voller Haare hat. Da fragen sich die Kinder vielleicht: Das habe ich nicht, wieso nicht?
Wann fängt es an, problematisch zu werden?
Schlepper: Bei Macht und Gewalt ist die Grenze sofort erreicht. Da, wo ein Kind einem anderen Kind etwas aufzwingt. Das kann in der Kita passieren, weil dort Kinder in unterschiedlichem Alter zusammen sind, weil es Anführerinnen und Anführer gibt. Die wichtigste Überschrift in diesem Zusammenhang lautet: Ich lerne als Kind, gegenüber jedem „Nein“ zu sagen. Ich weiß, dass ich „Nein“ sagen darf, weil es mein Körper ist. Niemand hat das Recht, da anzufassen. Das lernen Kinder aber nicht nur, wenn es um Körpererkundungen geht, sondern in allen Situationen in der Gruppe. Und zu Hause spielt das auch eine Rolle, wo es unter anderem darauf ankommt, mit welchem Respekt die Eltern ihren Kindern begegnen.
Ist die Kita mit ihrem Gewusel überhaupt der richtige Ort für Erkundungsspiele?
Schlepper: Die Frage kann man so nicht stellen, denn da, wo Kinder zusammenkommen, findet das statt: Körperlichkeit und miteinander umgehen. Es gibt doch keine Kita, in dem es nicht auch Orte gibt, die Kinder finden – hinter dem Schuppen, in einer selbst gebauten Höhle, aber auch in den Waschräumen, in denen es Türen gibt, die man zumachen kann. Das sind Orte, die wir natürlich kennen, auch mit Blick auf Risikoeinschätzung für gewalttätige Übergriffe. Letztlich geht es darum, in der Kita klare Regeln aufzustellen. Und es geht auch darum, mit den Eltern ein Einvernehmen darüber zu entwickeln und mit ihnen offen darüber zu reden: was findet hier statt, was findet bei euch zu Hause statt.
Eltern sind also bei dem, was in der Kita passiert, auch wichtig?
Schlepper: Ja, unter anderem, weil sie lernen müssen, ihr Kind loszulassen und es in eine fremde Welt hineinzulassen, in der sie gar nicht mehr alles mitbekommen. Da braucht es natürlich Vertrauen. Eine Versicherung, dass wir auf einer gemeinsamen Welle surfen, einen Austausch zwischen Fachkräften und Eltern über das pädagogische Konzept der Kita. Wir können die Kinder nicht jede Sekunde alle im Blick haben. Aber wir wissen, wie sich die Kinder entwickelt haben und bei wem man eingreifen muss. Kinder müssen Orte haben, an denen sie sich unbeobachtet fühlen. Und es ist trotzdem wichtig, dass man sie im Blick behält.
Ist das nicht ein Gegensatz in sich?
Schlepper: Das ist ein Gegensatz, der sich nur auflösen lässt, indem man den Kindern den Respekt zollt, dass sie auch mal alleine sein können, verbunden aber mit der Einschätzung: Wem kann ich das zutrauen? Und bei wem habe ich schon mal beobachtet, dass jemand Druck ausgeübt hat und ich dann hin und wieder um die Ecke schaue. Verdeckt, oder auch ganz offen, in dem ich hingehe und frage: Na, was macht ihr denn gerade?
Das ist eine Gratwanderung...
Schlepper: Absolut, da muss man ein Gefühl für haben, da muss man die Kinder kennen. Das verlangt einen gut gesicherten Kita-Alltag ohne ständige Personalwechsel. Die würden es schwieriger machen, wirklich in Ruhe mit dem Wissen um die Kinder unterwegs zu sein. Die Vertretungskraft, die da mal für drei Tage einspringt, kann das so gar nicht.
Spricht man eigentlich im Zusammenhang mit Übergriffen zwischen Kindern von sexualisierter Gewalt?
Schlepper: Nein, dahinter steht ja keine sexuelle Begierde. Das machen Kinder nicht, um sich zu befriedigen. Und trotzdem kann es massive Übergriffe geben. Dann taucht auch die Frage auf: Wie kommt ein Kind darauf? Hat es Bilder gesehen und will das jetzt nachmachen? Oder ist womöglich mit ihm so etwas gemacht worden?
Stellt sich auch die Frage: Wie mit solchen Grenzüberschreitungen umgehen?
Schlepper: Wenn so etwas beobachtet oder berichtet wird – beides ist gleichermaßen wichtig –, geht es in einem ersten Schritt darum, dem Kind Schutz und Hilfe anzubieten, das diesen Übergriff erlebt hat. Da gibt es in schweren Fällen auch Experten, Stellen in der Kinder- und Jugendhilfe, die unterstützen und schauen können, ob ein Kind traumatisiert ist und was zu tun ist, möglicherweise mit therapeutischer Kompetenz. Es gibt Hinweise auf Übergriffe: Wenn ein Kind etwas erlebt hat, was es nicht gut verarbeiten kann, wird es sich besonders verhalten, nässt zum Beispiel wieder ein oder will nicht mehr in die Kita.
Und die Täterkinder?
Schlepper: Wir sprechen mit Blick auf Übergriffe nicht von Täterkindern, sondern ausdrücklich von ausführenden Kindern. Sie sind genauso zu beschützen, denn Kinder machen etwas vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen und ihres Entwicklungsstandes. Aus dieser Logik heraus muss man dann schauen: Wie ist gerade ihr Lebensraum, gibt es besondere Situationen? Mit den Eltern muss man gemeinsam hinterfragen: Was sagt uns das Kind damit? Das kann etwas ganz Profanes sein. Aber es ist wichtig, diese Fragen zu stellen. Für Eltern, die einfach Angst und Sorgen haben, ist es manchmal schwer auszuhalten, dass die Pädagogen in diesem Zusammenhang nicht in Täter-Opfer-Sicht denken. Diese Betroffenheit der Eltern müssen wir mehr wahrnehmen, da müssen wir noch besser werden. Sonst kann die Situation eskalieren.
Was bedeutet das für den Träger einer Kita?
Schlepper: Wir müssen für die Rahmenbedingungen sorgen, damit die Mitarbeitenden ihre Aufsichtspflicht erfüllen können und für sich sagen können: Ich habe alles gut im Blick. Dafür braucht es eine ordentliche Personalausstattung, Kinderschutz-Schulungen, Konzepte, präventive Arbeit. Und einen offenen Austausch mit den Eltern. Dann erwarte ich aber auch, dass Eltern nicht nur ihr Kind abgeben, sondern auch zu den Elternabenden kommen, mitdenken und hören, wie das Leben in der Kita tickt. Der Fachkräftemangel kann da zum Risikofaktor werden. Wir können Kindergarten schließlich nur gut machen, wenn wir genügend qualifiziertes Personal an Bord haben. Im Zweifel muss der Betrieb reduziert oder eingestellt werden.