„Das Weihnachtsfest, wie wir es kennen, ist gerade mal 200 Jahre alt“
Göttingen. Der Weihnachtsbaum gehört hierzulande für die meisten Menschen ebenso zu Weihnachten wie die Krippe mit dem Jesuskind und ein üppiges Mahl im Familienkreis. Vielen gilt es zudem als das christliche Fest schlechthin. Dabei liegen Ursprünge vieler Weihnachtsbräuche und auch des Weihnachtsfests selbst im Dunkeln, verrät der Theologe Wolfgang Reinbold im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Weihnachten gehöre nicht einmal zu den Ur-Festen der Christenheit, betont der Professor für Neues Testament an der Georg-August-Universität Göttingen.
Das Weihnachtsfest ist vermutlich für viele Menschen der Inbegriff des christlichen Fests. Ist es das in seiner bürgerlich-traditionellen Form, in der Weihnachten in vielen Familien begangen wird, tatsächlich?
Wolfgang Reinbold: Nein, das ist eine ziemlich neue Entwicklung. Bis etwa zum Ende des 18. Jahrhunderts war Weihnachten ein Fest, das man in der Kirche und auf der Straße feierte. Erst danach wurde Weihnachten zu dem, was es heute ist: Ein Fest der Familie, im trauten Heim. Das Weihnachtsfest, wie wir es kennen, ist also gerade mal 200 Jahre alt.
Gibt es Überlieferungen, wie die ersten Weihnachtsfeste aussahen?
Reinbold: Zunächst ist zu sagen: Das Weihnachtsfest gehört nicht zu den Ur-Festen der Christenheit. Das hat viele Gründe. Im Neuen Testament kommt es nicht vor. Zwei der vier Evangelien berichten gar nicht von der Geburt Jesu. Und die beiden Evangelien, die davon berichten – Matthäus und Lukas – sind sich in den Details alles andere als einig. Ein exaktes Geburtsdatum überliefern beide nicht.
Es dauerte daher viele Jahrhunderte, bis ein Weihnachtsfest allgemein üblich wurde. Die ältesten Spuren für das uns bekannte Fest am 25. Dezember führen in die Stadt Rom. Hier feierte man die Geburt Jesu etwa ab dem Jahr 350 am 25. Dezember, das heißt im Zusammenhang mit der Wintersommerwende. Mit welcher Liturgie das Fest seinerzeit begangen wurde, ist leider nicht überliefert. Überhaupt gibt es nur sehr wenige Quellen aus dieser Zeit.
Wie kam eigentlich der Weihnachtsbaum in die Wohnzimmer – und worin wurzelt dieser Brauch?
Reinbold: Auch das wissen wir nicht genau. Es scheint auch hier einen Zusammenhang mit dem Datum der Wintersommerwende zu geben. Das Aufstellen eines immergrünen Baumes im Winter ist ein Kontrapunkt, ein Zeichen der Kraft des Lebens, ein Symbol dafür, dass das Licht trotz der immer kürzer werdenden Tage wiederkommen wird. Seit dem 16. Jahrhundert ist dieser Brauch zur Weihnachtszeit gut belegt.
Hinzu kommt ein zweiter Aspekt: Die heute weithin in Vergessenheit geratene Tradition des sogenannten „Adventsbaums“. Diesen Adventsbaum stellte man zu Beginn der Adventszeit auf und schmückte ihn dann jeden Tag mit einer Kerze. Sie wurde angezündet, während eine der Christus-Verheißungen aus dem Alten Testament vorgelesen oder aufgesagt wurde. Erfunden hatte das der berühmte Theodor Fliedner, einer der Gründerväter der evangelischen Diakonie, um 1850 in Kaiserswerth bei Düsseldorf. Von dort aus breitete sich der Brauch in ganz Deutschland aus.
Weihnachten heute bedeutet ja vor allem: von allem ein bisschen mehr. Mehr Lametta, mehr essen, mehr trinken, mehr schenken. Josef, Maria und Jesus hingegen mussten in der heiligen Nacht mit einem unwirtlichen Stall vorliebnehmen. Gerät das Wunder von Weihnachten – dass ausgerechnet die wohl wirkmächtigste Figur der Geschichte unter kargsten Bedingungen zur Welt kommt – angesichts dieser Überfülle nicht total aus dem Blick?
Reinbold: Da ist was dran. Zu bedenken ist zugleich, dass wir nicht wissen, unter welchen Bedingungen Jesus tatsächlich geboren wurde. Das Motiv, dass Maria Jesus auf der Reise geboren habe und dass sie ihn in eine Krippe, also in einen Futterbehälter für Tiere, gelegt habe, weil sonst „kein Raum in der Herberge“ gewesen sei, kennt nur das Lukasevangelium.
Das Matthäus-Evangelium weiß hingegen nichts von einer Krippe und noch weniger von dem, was die christliche Weihnachtstradition später daraus gemacht hat. Hier ist das Jesuskind von Anfang an ein König. Und wie es sich für einen König gehört, bringen berühmte und wichtige Männer, die eigens dafür von weit her angereist sind, ihm wahrhaft königliche, sehr teure Geschenke: Gold, Weihrauch und Myrrhe.
Wenn Sie auf diese von Kriegen, Krisen und drohendem Klimakollaps gebeutelte Welt schauen: Wie sollten wir die Weihnachtsbotschaft heute verstehen, um Hoffnung und Mut aus ihr zu ziehen?
Reinbold: Tatsächlich, die Welt ist von Kriegen und Krisen gebeutelt. So wie damals auch, als die Evangelisten Matthäus und Lukas die Geburtsgeschichten aufschrieben. Jerusalem lag seinerzeit in Trümmern. Das jüdische Land war von den Römern besetzt. Frieden war ein weit entfernter Traum. Die Weihnachtsbotschaft in dieser Situation war und ist meines Erachtens bis heute: Gott ist mit uns. Er sendet Jesus, seinen Sohn, den Christus.
Damit enttäuscht er die verbreitete Erwartung, es werde ein mächtiger Kriegsherr kommen, der die römischen Besatzer vernichtend schlägt. Stattdessen bringt der Christus eine Botschaft der Liebe, der Verletzlichkeit und der Versöhnung. Diese gute Botschaft, dieses Evangelium, gibt Hoffnung und Mut.