Diepholz. Es war eine Katastrophe mit verheerenden Folgen, die bis heute noch Auswirkungen haben. Vor fast 40 Jahren, am 26. April 1986, kam es im Atomkraftwerk von Tschernobyl (im Norden der Ukraine, nahe der Grenze zu Belarus) zu einem Unfall, der als schwerster in der zivilen Nutzung der Atomenergie gilt. Durch die Explosion eines Reaktors wurden große Mengen radioaktiver Stoffe freigesetzt und verteilten sich in der Atmosphäre. Ganze Landstriche wurden radioaktiv verseucht, die Strahlung hatte schlimme Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen. Schwere Krebs-, Blut und Immunerkrankungen waren ebenso Folgen wie geschädigtes Erbgut, das für Missbildungen bei Neugeborenen sorgte.
Die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers rief 1992 ihre Tschernobyl-Aktion ins Leben, deren Ziel die Unterstützung und der Austausch mit den Betroffenen aus dem Katastrophengebiet ist. Bis heute brachte die Aktion rund 30.000 Kinder aus der Region Gomel zu Erholungsaufenthalten in die Kirchenkreise der Landeskirche. Und er war von Anfang an mit Feuereifer und riesengroßem Engagement dabei: Wilhelm Reessing.
Auf Landesebene arbeitete er mit, war viele Jahre zweiter Vorsitzender der landeskirchlichen Arbeitsgemeinschaft. Im Kirchenkreis Grafschaft Diepholz ist sein Name untrennbar mit der Tschernobyl-Aktion verbunden.
Gemeinsam mit Hans Jürgen Waschke, dem ehemaligen Leiter des Jugendmigrationsdienstes im Diakonischen Werk des Kirchenkreises, organisierte und begleitete Reessing die Aktionen. Ab 1993 brachte er immer wieder große Gruppen von Kindern aus Gomel bei Gastfamilien im Kirchenkreis unter und richtete ein umfangreiches Erholungs-, Freizeit- und Bildungsprogramm für sie aus. 2019 beendeten Corona und anschließend der Krieg in der Ukraine die Besuche in Deutschland.
Reessing selbst hielt beides aber nicht ab, weiterhin aktiv und persönlich den Kontakt zu pflegen, vor Ort Schulpatenschaften zu initiieren und politische Arbeit zu betreiben. 130 Reisen hat er in all den Jahren in die Region Gomel unternommen. Zuletzt im November 2023. Im Jahr zuvor musste er Belarus im Februar 2022 noch fluchtartig verlassen und über Kasachstan ausreisen. Ein turbulentes und gefährliches Unterfangen.
Wilhelm Reessing ist Vater von acht Kindern und verstand sich stets als „Kinderrechtler“. Doch aus seiner Herzensaufgabe, der Tschernobyl-Aktion, zieht sich der 67-Jährige nun zurück. Nicht aus nachlassendem Interesse, wie er bekräftigt, sondern aus Altersgründen und weil Begegnungen vor Ort aus politischen Gründen in den vergangenen Jahren immer schwieriger wurden.
Im Rahmen einer bewegenden Verabschiedung bedankten sich Weggefährten und die Leitung des Kirchenkreises und des Diakonischen Werkes für seine langjährige Arbeit. „Wilhelm Reessing hat sich über 30 Jahre lang stark für die Völkerverständigung eingesetzt. Der Schutz und die Förderung der Kinder aus der Region Gomel waren seine Herzensangelegenheit. Er hat so vielen Mädchen und Jungen von dort Erholungsaufenthalte hier bei uns ermöglich und umgekehrt auch zahlreiche Gruppenreisen nach Belarus organisiert und durchgeführt – das ist wirklich ein außerordentliches Engagement“, betont
Marlis Winkler, Geschäftsführerin des Diakonischen Werkes Diepholz-Syke-Hoya. „Für das Diakonische Werk sagen wir ihm und allen Gasteltern und Unterstützern der Aktion herzlichen Dank dafür.“
Auch Marten Lensch, Superintendent des Kirchenkreises Grafschaft Diepholz, würdigt den Einsatz des 67-Jährigen: „Es ist beeindruckend, mit wie viel Herz, Energie und Zeit Wilhelm Reessing sich eingesetzt hat. Wir sind dankbar für diese lange, intensive Arbeit. Wie es mit der Tschernobylaktion in der Landeskirche und im Kirchenkreis weitergeht werden wir im kommenden Jahr beraten und entscheiden.“