„Mir hat etwas gefehlt“

Jedes Jahr kehren Tausende vormals Ausgetretene in die Kirchen zurück
Bild: privat

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Stuttgart/Hannover. Man hat sich an die Zahlen gewöhnt: Jahr für Jahr kehren Hunderttausende Bürger in Deutschland den beiden großen Kirchen den Rücken. 2022 waren es zusammen rund 900.000: knapp 523.000 in der katholischen und 380.000 in der evangelischen Kirche – ein Rekordwert. Die Gründe dafür sind vielfältig, angefangen beim Umgang mit Missbrauchsskandalen bis hin zum Ärger über die von vielen als Zwangsabgabe empfundene Kirchensteuer.

Aber es gibt auch eine – freilich deutlich kleinere – Gegenbewegung: Menschen nämlich, die der Kirche einst aus Überzeugung den Rücken gekehrt haben, dann aber merkten, dass ihnen etwas fehlt. Im vergangenen Jahr wurden 9.625 Menschen in eine der 20 Mitgliedskirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) wiederaufgenommen. Hinzu kamen 11.678 Erwachsene, die sich taufen ließen und so Kirchenmitglied wurden. In die katholische Kirche wurden 3.753 einstige Mitglieder wiederaufgenommen; 1.447 traten neu ein.

Mit solchen Menschen haben Dan Peter und seine Pfarrkolleginnen und -kollegen häufiger zu tun. Der Theologe leitet die Pressestelle der Evangelischen Landeskirche in Württemberg in Stuttgart und ist dort unter anderem zuständig für die kirchliche Wiedereintrittsstelle. Pro Tag meldeten sich durchschnittlich vier Menschen, die eine neue Sehnsucht nach der Kirche verspürten, berichtet Peter. Die meisten riefen an, manche kämen aber auch direkt in das Büro im Stuttgarter Westen, wie jener Mann, der neulich bei über 30 Grad schwitzend an der Tür der Wiedereintrittsstelle klingelte und, als ihm geöffnet wurde, sagte: „Endlich habe ich Sie gefunden.“

Manchmal stünden die Wiedereintrittswilligen derzeit aber auch vor verschlossenen Türen oder erreichten telefonisch niemanden, räumt Dan Peter ein. Krankheitsbedingt sei die Wiedereintrittsstelle diesen Sommer nämlich nicht dauerhaft besetzt.

Verlässliche Öffnungszeiten bietet die Wiedereintrittsstelle in der Buchhandlung an der Marktkirche in Hannover. Und seit kurzem ist Pastor Stephan Lackner auch im „Aufhof“ zu finden. Im Erdgeschoss des ehemaligen Kaufhauses Galeria Kaufhof, das zurzeit von städtischen, universitären und anderen Initiativen genutzt wird, lädt er auf gemütlichen Liegestühlen dienstags, mittwochs und donnerstags von 16 bis 18 Uhr zum Gespräch ein. „Wir können hier unbürokratisch und schnell Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet wieder in die Kirche aufnehmen“, sagt Stephan Lackner. Voraussetzung dafür ist die Taufe. Aber auch daran soll es nicht scheitern: Lackner bietet Intensiv-Taufkurse für Erwachsene an. Damit der Kontakt hinterher nicht abreißt, verschickt er viermal im Jahr einen Newsletter an die Neumitglieder.

Was sind die Gründe, dass Menschen, die einst aus Überzeugung austraten, nun zurückwollen in die Kirche? Laut der sogenannten Freiburger Studie zu Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuer von 2019 ist einer der Hauptgründe für den Kirchenaustritt die Kirchensteuer. Statistisch betrachtet steigt die Zahl der Kirchenaustritte mit dem Eintritt ins Berufsleben massiv an und bleibt bis zum Eintritt in den Ruhestand überdurchschnittlich. Das deckt sich mit den Erfahrungen, die Dan Peter in seiner täglichen Arbeit macht: „Wenn junge Menschen ihr erstes Gehalt bekommen und sehen, dass sie Kirchensteuer zahlen, fragen sie sich häufig: Was habe ich davon? Brauche ich die Kirche wirklich?“

Für die meisten protestantischen jungen Menschen – auch das lässt sich statistisch belegen – endet der Kontakt zur Kirche laut Peter bereits mit der Konfirmation: „Wer in seiner Kirchengemeinde bis dahin keine Heimat gefunden hat, entfremdet sich von ihr und von der Kirche insgesamt.“ Der Schritt zum Kirchenaustritt sei dann nicht mehr weit. Später seien es vielfach Übergangspunkte im Leben, die ehemalige Kirchenmitglieder zum Nachdenken brächten, etwa die eigene Hochzeit oder die Geburt eines Kindes, weiß der Theologe.

Oder es sind Todesfälle. Wie bei der 66-Jährigen, die ihre Motivation, wieder zur Kirche gehören zu wollen, so begründete: „Der Tod meiner Mutter ließ mich mein Leben neu ordnen und überdenken. Seit dieser Zeit reifte der Gedanke, mich wieder bewusst in die christliche Gemeinschaft einzufügen und dort zu engagieren.“ Manchmal sei es auch eine Sehnsucht, die die Menschen gar nicht genau in Worte fassen könnten, sagt Peter. So habe ihm eine Mittvierzigerin am Telefon erklärt: „Ich weiß nicht recht, warum ich wieder dazugehören will. Mir hat etwas gefehlt.“

Matthias Pankau (epd)/EMA