Wenn die Geschichten purzeln...

Andacht zum 22. Sonntag nach Trinitatis
Zwei Hände schälen eine Kartoffel mit einem Messer
Bild: Pixabay

Der Autor

Ein Mann mit kurzen Haaren, Vollbart und Brille blickt in die Kamera.
Ralf Drewes

Ralf Drewes ist Pastor in der Nordstädter Kirchengemeinde in Hannover.

Gestalten des Glaubens – wer im Lexikon danach sucht oder im Internet googelt, der findet Martin Luther, Dietrich Bonhoeffer, Albert Schweitzer. Merkwürdig, mir fällt nämlich zuerst meine Großmutter ein. „Oma, dürfen wir zuhören, wie du Kartoffeln schälst?“ Natürlich dürfen die Kinder zuhören, wie Oma Kartoffeln schält. Denn beim Kartoffelnschälen purzeln die Geschichten aus Oma wie die Kartoffeln ins Wasser.

Also erzählt Oma Geschichten. Dass die Großtante Anna sich immer die rechte Seite hielt, wenn sie sich aufregte, und „mein Herz, mein armes Herz“ klagte. Und wie alle sie ausgelacht haben, weil das Herz doch links sitzt. Und Oma erzählt vom Kriegsende, wie die Habseligkeiten hinterm Hühnerstall verbuddelt wurden, als die Engländer kamen. Und aus Angst hat sie alles dann doch ausgegraben und ausgehändigt. Großmutter erzählt auch davon, wie Josef von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft wurde, weil sie neidisch auf ihn waren. Und davon, wie Jesus auf einer Hochzeit Wasser in Wein verwandelte und dadurch das Fest rettete.

Ich habe das Geschichtenerzählen von damals immer sehr gerne gehabt. Wir Kinder saßen unterm Küchentisch und waren wie gebannt. Von der Oma, die vorm Tisch stand, sahen wir natürlich nur das untere Ende der Schürze und ihre Beine, die in bequemen Schuhen steckten. Aber vor allem hörten wir ihre Stimme. Das war aufregend. Plötzlich war man so nah dran an Tante Anna, an Josef in Ägypten und den Engländern hinterm Hühnerstall. Und man war so schön nah dran an der Großmutter.

Darum sind dies alles auch meine Geschichten geworden. Weil die Oma sie erzählt hat, gehören sie zu mir. Ich lebe mit diesen Geschichten. Auch wenn ich die Großtante Anna nicht gekannt habe. So wie ich Josef und seine Brüder auch nicht gekannt habe. Wegen Oma bin ich dennoch vertraut mit ihnen, mit den Geschichten von ganz fremden Menschen. Großtante Anna, Josef, Jesus: Das alles kommt mir nahe, weil die Großmutter dafür einsteht. Sie garantiert mir nicht meinen Glauben. Aber sie erzählt von einer Welt, die größer ist als meine eigene, und von einer Familie, die mehr ist als meine Herkunftsfamilie. Während wir beengt unterm Küchentisch sitzen, öffnet Oma den Weg ins Weite. Bis heute.

Amen.

Biblischer Text,
Psalm 78,2–7
Ich will meinen Mund auftun zu einem Spruch
und Geschichten verkünden aus alter Zeit.
Was wir gehört haben und wissen
und unsre Väter uns erzählt haben,
das wollen wir nicht verschweigen ihren Kindern;
wir verkündigen dem kommenden Geschlecht
den Ruhm des Herrn und seine Macht
und seine Wunder, die er getan hat.
Er richtete ein Zeugnis auf in Jakob
und gab ein Gesetz in Israel
und gebot unsern Vätern,
es ihre Kinder zu lehren
auf dass es die Nachkommen lernten,
die Kinder, die noch geboren würden;
die sollten aufstehen
und es auch ihren Kindern verkündigen,
dass sie setzten auf Gott ihre Hoffnung
und nicht vergäßen die Taten Gottes.
Ralf Drewes