Viele jüdische Menschen haben Angst, sich in Deutschland als gläubig zu erkennen zu geben. Seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 hat sich die Situation zugespitzt, Antisemitismus tritt immer häufiger zu Tage. Wie sieht jüdisches Leben aktuell in Deutschland aus? Welche Solidarität oder Anfeindungen gibt es? Wie haben sich die Lebenswelten verändert?
Um diese Fragen geht es bei "Was gesagt werden muss", einer Diskussionsrunde, zu der Hanns-Lilje-Stiftung und die Landeskirche Hannovers gemeinsam einladen, am 30. Oktober um 19 Uhr in der Kreuzkirche Hannover. Der Autor, Publizist und Kommunikationswissenschaftler Ruben Gerczikow, ehemaliger Vizepräsident der European Union of Jewish Students sowie der Jüdischen Studierendenunion, wird seine persönliche Sicht darstellen und nach der Kontinuität des Antisemitismus in Deutschland fragen. Im Anschluss kommt er darüber mit Esther Belgorodski, ehemalige Präsidentin des Verbandes Jüdischer Studierender Nord e.V., und Marie-Isabel Werner, im christlich-jüdischen Dialog engagierte Studentin (Germanistik und Kath. Theologie auf Lehramt) ins Gespräch. Das Gespräch moderiert Landesbischof Ralf Meister. Seniorrabbiner Dr. Gábor Lengyel spricht ein Schlusswort.
Für Isabell Werner ist die Teilnahme aus mehreren Gründen wichtig: "Als Deutsche, die in dem Land der Täterinnen und Täter der Shoah lebt und aufgewachsen ist sowie aktuelle politische Entwicklungen und Problematiken beobachtet; als Christin, die sich kirchlichem Antijudaismus und kirchlicher Verantwortung (und ihrem Fehlen) bewusst ist, deren Religion aber auch mit der Hebräischen Bibel einen gemeinsamen Text als heilige Schrift hat. Und drittens aber auch als junge Frau, die genauso versucht, ihr Leben zu beschreiten, wie es junge Jüdinnen und Juden tun, Menschen, die in Deutschland wohnen, studieren, arbeiten. Jüdisches Leben ist zwar so viel mehr als nur durch Antisemitismus geprägt, aber dennoch ist er eine Realität, die wir nicht ignorieren dürfen – und an der ich als außenstehende Person direkt anknüpfen und die ich mit meinem eigenen Handeln beeinflussen kann."
Miteinander in den Austausch zu gehen sei für sie immer eine bereichernde Erfahrung. Zudem trügen alle Menschen eine Verantwortung dafür zu sorgen, dass sich der Holocaust und die Verfolgung jüdischer Menschen nicht wiederhole. "Es beginnt damit, sich selbst zu hinterfragen, zu erkennen, dass wir gesellschaftlich von antisemitischen Strukturen geprägt sind und das als Teil unserer eigenen Identität anzunehmen, um dann handlungsfähig zu werden", so Isabell Werner. "Dann kann ich konstruktiv und im Dialog diese Strukturen dekonstruieren und mit meiner Sprache und meinem Handeln einen Raum schaffen, der weniger diskriminierend ist."
Esther Belgorodski ist ehemalige Präsidentin des Verbandes Jüdischer Studierender Nord e.V.. Sie sieht Rückschritte im Bezug auf Antisemitismus in der Gesellschaft. Im Interview erklärt sie, was sie zu der Teilnahme an "Was gesagt werden muss" veranlasst.
Frau Belgorodski, wie „normal“ ist jüdisches Leben heute in Deutschland? Müssen Sie Angst haben, öffentlich als Jüdin aufzutreten?
Belgorodski: Absolut. Ich lebe mein Leben, allerdings mit Sicherheitsbedenken, Bedenken, die für andere Menschen total unsichtbar scheinen. Ich war schon in der Schule antisemitischen Beleidigungen ausgesetzt, wurde verbal und körperlich angegriffen. Und ich musste öffentliche Veranstaltungen absagen, weil die Organisatoren nicht für die nötige Sicherheit gesorgt haben. Es kam schon vor, dass ich auf dem Podium beschimpft wurde. Und auch wenn so eine Veranstaltung zu Ende geht, bleiben meine Bedenken. Denn an solchen Tagen stellt sich für mich die Frage: Wie komme ich sicher nach Hause?
Menschen, die mit Hass und Hetze nicht umgehen müssen, können sich nicht in jüdisches Leben hineinversetzen. Sie haben keine Vorstellung, wie es sich anfühlt, im Alltag ständig und aus dem Nichts mit antisemitischen Sprüchen oder gar Androhung körperlicher Gewalt konfrontiert zu werden.
Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen. Hier ist mein Zuhause.
Junge Jüdinnen und Juden bringen sich politisch zu vielen wichtigen Themen in die Gesellschaft ein, werden aber auch eingeladen, um über Themen wie Antisemitismus zu sprechen. So auch am kommenden Mittwoch. War das früher anders?
Belgorodski: Wir sind vielleicht in den letzten Jahren lauter geworden. Wir sind eine neue resiliente und selbstbewusste Generation. Jedoch geht es heute nicht mehr nur um den Schutz, sondern vor allem um die Entwicklung jüdischen Lebens. Die laut gewordene Intoleranz gegenüber jüdischen Menschen hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass sich eine gesellschaftliche Rückentwicklung feststellen lässt.
Grundsätzlich kann man sagen, dass die Jüdinnen und Juden sich schon immer für andere Menschen, eigentlich alle gesellschaftlichen Themen und auch sich selbst, stark machen.
Das Wissen vieler Menschen beschränkt sich im Bezug auf jüdisches Leben oft auf Themen wie Tod, Antisemitismus oder den Israelkonflikt. Wie kann es gelingen, das negativ konnotierte Denken der Menschen auszuräumen?
Belgorodski: Schulische Bildung funktioniert hier in Deutschland nur über Abgedrucktes. Die Menschen müssen endlich begreifen, dass das Judentum nicht nur eine Religion ist, sondern gleichzeitig eine kulturelle und ethnische Zugehörigkeit. Jüdinnen und Juden sind so geboren. Für mich steht jüdisches Leben per se für pure Freude: die selbstgekochten Gerichte meiner Mama, die jüdischen Sommercamps, welche voll von Liedern und Gesang sind. Ich habe nie verstanden, dass jüdisches Leben die Grundlage für Hass und Anfeindung anderer Menschen sein kann.
Wie wichtig sind Vortragsveranstaltungen wie die, zu der die Hanns-Lilje-Stiftung am Mittwoch einlädt?
Belgorodski: Ich bin ein sehr direkter Mensch und finde es wichtig, dass solche Veranstaltungen zum Austausch anregen. Ein gesundes Maß an Konfrontation gehört zu angeregten Diskussionen dazu, jedoch darf man im Gespräch niemals unter die Gürtellinie gehen.
Gerade ältere Menschen fühlen sich manchmal vor den Kopf gestoßen, wenn sie zum Thema Antisemitismus Tatsachen aufgetischt bekommen, mit denen sie bislang nicht konfrontiert wurden. Meine Eltern stammen aus der Ukraine und dort existiert folgendes Sprichwort: „Küken belehren die Hühner nicht“. Aber wir junge Menschen müssen uns dies nicht mehr auferlegen lassen, sondern offen in die Diskussion gehen. Und hierbei sollte niemand Angst davor haben, seine Meinung zu ändern, egal ob jung oder alt.