„Ein Ort des mutigen Anlaufnehmens“
Frau Siegesmund, Sie sind eine erfahrene Politikerin und keine Theologin. Wie dringend braucht Kirche neue Impulse aus der Gesellschaft? Und was kann Gesellschaft von Kirche lernen?
Siegesmund: Ich bin in der DDR aufgewachsen und kann ganz klar sagen: Hätte es die Kraft der Kirchen nicht gegeben, wäre es niemals zu einer friedlichen Revolution gekommen. Damals haben Menschen mutig Anlauf genommen und sind gesprungen – und zwar auch unter dem Dach der Kirchen. Auf diesem Fundament kann man auch heute noch aufbauen.
Kriege, Klimakrise, liberale Demokratie in Gefahr: Was kann und muss ein Kirchentag zu den drängenden Fragen der Zeit beitragen?
Siegesmund: Das Wort des Jahres 2023 war aus gutem Grund Krisenmodus. Die zweifellos zahlreichen Probleme verstellen uns aber bisweilen den Blick auf eine gute Zukunft. Es sollte Aufgabe des Kirchentages sein, Herausforderungen zu benennen und lebhaft zu diskutieren, aber bitte in Fröhlichkeit und Zuversicht. Am Ende sollten alle mit Lösungsansätzen nach Hause fahren.
Wie soll das gelingen? Auf Social Media, aber auch im persönlichen Miteinander driften Debatten doch gefühlt immer stärker auseinander.
Siegesmund: Unsere Gesellschaft hat ein Stück verlernt, sich in Offenheit zu begegnen. Wir sollten den anderen wieder unterstellen, dass sie auch recht haben könnten. Produktiver Streit bringt uns alle weiter, davon lebt eine lebendige Demokratie. Das wünsche ich mir auch für Hannover. Eine rote Linie ist für mich allerdings dort, wo es rassistisch oder antisemitisch wird.
Ende Januar ist die ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie veröffentlicht worden. Auch viele, die dem Kirchentag nahestehen, fragen sich: Wie kann man jetzt eine fröhliche Großveranstaltung planen?
Siegesmund: Es geht darum, dass Schutz und Fürsorge gewährleistet sind – ohne Wenn und Aber. Es gibt für den Kirchentag ein Schutz- und Fürsorgekonzept, es gibt Ansprechpartner und eine 24-Stunden-Hotline. Kirche sollte ein Schutzraum sein. Wenn sie das nicht leistet, hat sie versagt. Der Kirchentag ist zwar unabhängig von der EKD und funktioniert in vielen Dingen auch anders als die verfasste Kirche – aber wir wissen, dass viele der von ForuM als evangelisch benannte Risikofaktoren auch auf uns zutreffen. Wir schauen uns deswegen ganz genau an, welche der Empfehlungen der Studie auch auf den Kirchentag übertragbar sind. Kirche und Kirchentag leben vor allem von ihrer Glaubwürdigkeit. Von daher ist es zentral, dass wir hier mit aller Klarheit Konsequenzen ziehen.
Jugendprojekte sollen 2025 in Hannover einen Schwerpunkt bilden. Wie kann es gelingen, junge Menschen zum Kirchentag einzuladen?
Siegesmund: Indem sie und ihre Anliegen im Zentrum stehen. Für mich ist das ein Herzensanliegen. Nur ein Viertel von ihnen schaut Studien zufolge aktuell zuversichtlich in die Zukunft. Trotz aller Krisen, trotz des Artensterbens und der Kriege: Die junge Generation sollte nicht in Angst erstarren. Wir müssen ihre Fragen hören und ernst nehmen. Genau dafür wollen wir ihnen als Kirchentag Podien bieten. Ich wünsche mir sehr, dass uns das gelingt.
Worauf freuen Sie sich am meisten, wenn der Kirchentag Ende April 2025 losgeht?
Siegesmund: Ich wünsche mir einen Kirchentag mit vielen Beteiligten aus der ganzen Stadt, der Region Hannover und dem Land Niedersachsen – auch wenn wir natürlich die ganze Republik einladen. Ich hoffe, dass der Kirchentag für viele eine Beschäftigung mit neuen Themen und Menschen wird – ein Ort des mutigen Anlaufnehmens. Und ich hoffe, dass wir alle wieder mit frisch aufgeladenen Akkus in den Alltag zurückkehren.