Die Notfallseelsorge unterstützt deutsche Rückkehrer aus Israel

139 Deutsche wurden bis Montagmorgen mit Bundeswehrmaschinen aus Israel evakuiert. In Wunstorf leistete die Notfallseelsorge erste Hilfe.
Man sieht bunte Koffer auf einem Gepäckband am Flughafen.
Bild: canva.com

Es war Samstagabend gegen 22 Uhr, als bei Torsten Dannenberg in Neustadt das Telefon klingelte. Am anderen Ende der Leitung: Bernd Paul, Pastor und Beauftragter für Notfallseelsorge im Sprengel Lüneburg. „Kannst Du kurzfristig ein Notfallseelsorge-Team zusammentrommeln?“ fragte er. „Es eilt.“ Die Koordinierungsstelle NOAH (Nachsorge, Opfer- und Angehörigenhilfe) des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) bat um Unterstützung. Seit dem Jahr 2002 bietet die Einrichtung der Bundesregierung eine akute sowie längerfristige psychosoziale Versorgung für Deutsche an, die im Ausland schwere Unglücksfälle, Terroranschläge oder Naturkatastrophen erlebten.

In dieser Nacht auf den Sonntag war diese Unterstützung besonders gefragt. Denn sechs Stunden später sollten 79 Deutsche mit zwei Maschinen der Bundeswehr am Fliegerhorst in Wunstorf landen. Eine Woche lang hatte die Hamas da bereits in Israel eine brutale Spur des Terrors hinterlassen – und ob die ankommenden Passagiere diese durch die Nachrichten mitverfolgten oder sich eigene traumatische Erfahrungen bei ihnen eingebrannt hatten, war noch vollkommen unklar.

Ein Mann mit grauen kurzen Haaren und Brille. Er trägt einen schwarzen Pulli und ein graues Sakko mit einem kleinen Kreuz am Revers
Bild: Privat
Notfallseelsorger Holger Kipp.

Herr Kipp, Sie haben die Menschen als einer der ersten in Empfang genommen, als sie aus dem Bus stiegen und die Passagierabfertigung betraten. Wer kam dort an? Urlauberinnen und Urlauber? Oder auch Menschen, die in Israel lebten?

Holger Kipp: Es war sehr unterschiedlich.  Drei Mädchen kamen mit ihrer Mutter an und erzählten: „Wir wohnen in Tel-Aviv“. Der Vater sei immer noch in Israel. Sie würden mit der Mutter jetzt erst einmal zu den Großeltern fahren, die sie aufnehmen. Vier Minderjährige kamen auch unbegleitet. Zwei wurden von ihren Eltern abgeholt. Zwei Kinder hat mein Kollege, Matthias Stahlmann, in seine Obhut genommen, um sie der Familie in Hannover sicher zu übergeben. Und es waren auch viele Familien dabei – junge Paare mit Kindern. Sie waren im Urlaub vollkommen überrascht worden von den Ereignissen.

Es gab aber auch Menschen, die tatsächlich alles zurückgelassen haben. Manche erfuhren erst eine Stunde zuvor von der Abreise. Es blieb damit nur noch Zeit, gerade das Nötigste einzupacken. Man muss sich also sehr schnell überlegen: Fliege ich mit oder bleibe ich hier? Und dann überrollt einen das ganze Geschehen.

Ein ukrainisches Paar aus Magdeburg berichteten uns, dass in der Nähe vom Flughafen in Tel Aviv auch Raketen einschlugen, als sie auf den Flug warteten. Alle schmissen sich auf den Boden und hofften darauf, dass es vorbei geht. Die Anspannung, sagte die Frau, die sie da erlebte, die wird wohl auch erst später abfallen. Wenn man einen sicheren Hafen angelaufen hat, wenn man eine Nacht geschlafen hat – und dann kommen die Geister aber auch wieder hoch. Und diese Geister fangen dann eventuell auch an, zu klagen.

Wie helfen Sie Menschen in diesem Augenblick?

Kipp: Manchmal hilft allein das Gespräch. Selbst, wenn es erstmal kurz ist. Es ist wichtig, vor allem jemanden zu haben, der zuhört.

Wir sprechen Menschen auch an, wenn wir sehen, dass jemand Hilfe braucht. Es gibt ja das bekannte Bild von dem Feuerwehrmann, der nach dem Einsatz auf einer Leitplanke sitzt, die Zigarette im Mund oder die Hände im Schoß, leicht zitternd. Dieses Bild wiederholt sich bei Menschen – und wir sprechen sie dann an, fragen: „Wie geht es Dir?“ Und wenn jemand sagt „ja, schlecht“, dann fragt man nach. „Magst Du davon erzählen?“

Und was ist, wenn die Geister erst später erwachen, nach einer Woche oder zwei?

Kipp: Wir hatten von der NOAH Flyer dabei. Sie geben wertvolle Tipps für die Selbsthilfe in den ersten Tagen und Informationen zum Umgang mit belastenden Ereignissen.

Ein Mann steht im Garten und schaut freundlich in die Kamera. Er trägt einen blauen Pulli, eine Brille und hat kurze graue Haare.
Bild: Privat
Torsten Dannenberg, Notfallseelsorger in Neustadt, arbeitet seit 40 Jahren bei der Feuerwehr.

Herr Dannenberg, wir war Ihr Eindruck von den Passagieren unmittelbar nach der Ankunft?

Torsten Dannenberg: Es war sehr unterschiedlich. Viele wirkten sehr gefasst. Wir unterstützten aber auch die Angehörigen, die auf ihre Familien warteten. Es war ein Mann dabei, der auf seine Tochter wartete und sehr aufgelöst war. Die Anspannung fiel erst ab, als er sie sah.

Eine ältere Frau wartete auf ihre Tochter und ihren Schwiegersohn, einen Israeli. Als sie dann ankamen, haben sie mit mir gleich erst einmal erleichtert ein Selfie gemacht und mich anschließend um ein Familienfoto als Erinnerung gebeten. Vielen ist richtig ein Ballast von der Seele gefallen. Sie haben sich so gefreut zu Hause zu sein, in Sicherheit zu sein.

Haben Sie selbst Freunde oder Bekannte, die zurzeit in Israel sind?

Kipp: Wir haben in unserer Gemeinde ein junges Mädchen, Lea. Sie ist Leiterin unseres Posaunenchores. Sie war jetzt fast 2 Monate im Westjordanland an einer palästinensischen Schule und arbeitete innerhalb eines Sozialprojektes. Lea sollte palästinensischen Kindern das Spielen auf Blasinstrumenten beibringen. Man hat ihr dringend geraten, nach Hause zu fahren, weil man nicht weiß, wie sich die Situation entwickelt. Gerade im Westjordanland nehmen die Spannungen aktuell zu. Gestern Nachmittag ist sie glücklicherweise zuhause angekommen. Sie ist von Jordanien aus mit einer zivilen Maschine geflogen.

Wie haben die Bilder aus Israel Sie selbst in den letzten Tagen geprägt? Und ist die Notfallseelsorge für Menschen aus einem Kriegsgebiet eine andere als nach einem Unfall?

Kipp: Nein, das macht keinen Unterschied. Auf der anderen Seite hatte ich aber selbst das Gefühl: Ja, jetzt ist ein Stück Krieg auch bei uns. Wir sind involviert. Da waren Menschen aus unserem Land, die versucht haben, sich in großer Angst und Not in Sicherheit zu bringen.

Der Krieg ist mir selbst auch nicht unbekannt. Ich war 41 Jahre bei der Bundeswehr und habe in zwei Kriegen mitgekämpft. Auf dem Balkan und in Afghanistan. Ich habe in einem Minenfeld gestanden und bin danach acht Jahre nicht mehr über Rasenflächen gelaufen. Das war sehr prägend. Ich weiß daher auch, wie es sich anfühlt, wenn andere auf einen schießen. Vordergründig lernt man damit umzugehen. Hintergründig brauchte ich selbst ein Jahr nach meiner Rückkehr nach Deutschland, um hier wieder richtig anzukommen. Ich hatte Flashbacks, aber als Seelsorger hat man auch seine „Hilfsmittel“ der Seelenhygiene.

Welche Hilfsmittel sind das?

Kipp: Ich habe damals gelernt zu sagen: „Okay, wenn Ihr Ängste jetzt meine ‚neuen Freunde‘ seid, dann seid willkommen.“ Es ist vergleichbar mit der Fliegerei. Denn als Pilot lernt man: Nimm niemals das Gas raus, wenn Du fliegst, denn dann landest Du in einem „Steiltrudeln“. Und das hört erst auf, wenn man auf dem Boden aufschlägt.  Gegen diese Angstpsychosen, posttraumatischen Belastungsstörungen, dieses „ins Grübeln kommen“ hilft nur eines: in Bewegung bleiben.

Dannenberg: Jeder von uns hat solche Routinen. Darüber hinaus gibt es auch kollegiale Unterstützung von anderen Notfallseelsorgern – unter Wahrung der Schweigeplicht. Und dankenswerterweise gibt in unserer Landeskirche auch Angebote für eine Supervision. Die Notfallseelsorge bleibt auf jeden Fall eine Herzensangelegenheit für uns. Auch für mich. Ich bin jetzt über 40 Jahre bei der Feuerwehr, und an der Bahnstrecke und Bundesstraße in meinem Heimatort habe ich viele Unfälle miterlebt. Als ich 18 Jahre alt war, da gab es die Notfallseelsorge noch nicht. Das hat sich bemerkbar gemacht. Denn viele Kollegen haben damals schweigend, ohne darüber zu sprechen, den Dienst quittiert. Ich bin froh, dass es heute anders ist und wir uns auch gegenseitig unterstützen können.

Lilian Gutowski / EMA