In einer Nacht Ende Februar hat Russland die Ukraine überfallen. An den Tag danach erinnert sich Daniel Tietjen noch genau. „Die Ehrenamtliche, mit der ich gesprochen habe, war völlig platt. In jedem Gespräch ging es um die Ukraine-Krise, verbunden mit großen Ängsten, Sorgen und Erschütterung“, sagt der Leiter der TelefonSeelsorge Elbe-Weser.
Die Angst vor dem Krieg in der Ukraine, der Tod eines Angehörigen oder Liebeskummer: Die Themen, über die Ratsuchende am Telefon reden möchten, sind so vielfältig wie die Menschen selbst. Die Ehrenamtlichen haben immer ein offenes Ohr für sie. Ihre Stärke liegt vor allem im Zuhören. Zwar kann nicht jedes Problem direkt am Telefon gelöst werden – aber wer anruft, fühlt sich sofort weniger einsam.
„Wir sind für alle offen“, sagt Tietjen. Welche und ob der oder die Anrufende eine Religion ausübt, ist egal. „Zum Christentum gehört Nächstenliebe genauso wie Toleranz und ein respektvoller Umgang miteinander“, sagt er. Wer die Nummer der TelefonSeelsorge wählt, kann sich deshalb sicher sein: Missioniert wird hier niemand.
Die mehr als 7.700 ehrenamtlichen Mitarbeitenden nehmen sich Zeit für die Anrufenden. Sie hören zu. Die Gespräche behandeln sie vertraulich. Nicht einmal den Namen müssen Anrufende nennen. Beide Seiten bleiben anonym.
Mehr als Hälfte der Ratsuchenden ist noch keine 30 Jahre alt
Das Engagement der Telefon-Seelsorge ist nicht nur für Ratsuchende hilfreich, sondern für die ganze Gesellschaft. „Manchmal sind wir wie ein Seismograf für gesellschaftliche Entwicklungen. Welche Themen die Menschen aktuell bewegen, merken wir schon sehr früh“, sagt Daniel Tietjen. Daraus ergeben sich immer wieder politische Forderungen: ganz aktuell etwa nach einer gesetzlichen Regelung für die Prävention von Suiziden.
Menschen beratend und tröstend zur Seite zu stehen, die sich das Leben nehmen wollen: Mit diesem Ziel haben Engagierte die Telefon-Seelsorge nach englischem Vorbild vor mehr als sechs Jahrzehnten in Berlin gegründet. Noch heute gehört der Suizid und dessen Vorbeugung zum Alltag der Ehrenamtlichen. Jeder 16. Anrufende äußert Gedanken darüber, sich das Leben nehmen zu wollen. Knapp ein Prozent reden über konkrete Suizidabsichten. Im Chat oder via Mail – über diese Kanäle kann man die TelefonSeelsorge ebenfalls kontaktieren – taucht das Thema noch häufiger auf. In jeder vierten Mail und in jedem fünften Chat schreiben Ratsuchende über Suizidgedanken. Mehr als die Hälfte der Menschen, die sich via Chat oder Mail melden, sind noch keine 30 Jahre alt.
Über Suizid zu schreiben fällt leichter, als über ihn zu sprechen
Einerseits falle es offenbar leichter, über Suizid zu schreiben als zu sprechen, mutmaßt Daniel Tietjen. Andererseits gebe es zu wenig Therapeut*innen mit Kassenzulassung. Wer psychisch erkrankt ist, sucht oftmals Monate nach einem Therapieplatz, dessen Kosten die gesetzliche Krankenkasse trägt. In dieser Zeit geht es vielen Betroffenen zunehmend schlechter. Laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe sind Suizidgedanken und -impulse sehr häufige Symptome einer Depression. Diese Krankheit lässt sich gut behandeln – und dadurch ließen sich Suizide verhindern. Deshalb fordert die Telefonseelsorge, mehr Kassenzulassungen zu vergeben.
Denn die Lücke an fehlenden Therapieplätzen kann die Telefon-Seelsorge nicht füllen, sagt Daniel Tietjen. Dieser Anspruch überfordere die Ehrenamtlichen, auch wenn sie gut ausgebildet sind. Wer den Hörer abnimmt, hat eine 15 Monate lange Ausbildung im Umfang von 150 Stunden absolviert. Der Umgang mit suizidalen Menschen ist ein Kernthema.
Die Ehrenamtlichen lernen darüber hinaus: Es geht während der Telefonate nicht um mich, sondern um die Ratsuchenden. Allein gelassen werden sie aber nicht. Nach der Ausbildung gibt es für die Ehrenamtlichen regelmäßige Supervision. So haben auch sie jemanden, mit dem oder der sie belastende Themen aus Anrufen besprechen können.
Nachfrage übersteigt das Angebot
Besonders häufig drehen sich die anonymen Gespräche um depressive Stimmungen, körperliche Schmerzen und Einsamkeit. Während der Lockdowns in der Corona-Pandemie fühlten sich noch mehr Menschen alleine – und suchten Rat. Die Telefon-Seelsorge hat schnell reagiert. Sie stellte mehr Leitungen zur Verfügung, Ehrenamtliche telefonierten teils in Doppelschichten. Trotzdem übersteigt die Nachfrage das Angebot stark. Nur einer von 13 Anrufenden kommt beim ersten Versuch durch.
Aktuell ist der Ukraine-Krieg in den Gesprächen nicht mehr ganz so präsent, sagt Daniel Tietjen. Mittlerweile drehten sich die Telefonate, Mails und Chats auch um die persönlichen Folgen des Krieges für diejenigen, die in Deutschland leben: finanzielle Unsicherheiten, Gesundheitskosten und politische Fragen.
Lösungen für all diese vielfältigen und individuellen Probleme haben die Ehrenamtlichen der Telefon-Seelsorge in der Regel nicht sofort parat. Der Anspruch ist aber auch ein anderer, erklärt Daniel Tietjen. „Wir haben ein offenes Ohr. Wer bei der Telefon-Seelsorge anruft, kann sicher sein: Am anderen Ende der Leitung sitzen Menschen, die ein hohes Interesse haben, für Sie da zu sein.“