„Die Kirche sollte eine hörbare Stimme bleiben“

Landeskirchenamts-Präsident Jens Lehmann über aktuelle Herausforderungen
Eine als männlich lesbare Person im hellblauen Hemd, mit dunkelblauem Hemd und Brille vor grünem Hintergrund.
Bild: Jens Schulze

Hannover. Der Jurist und Verwaltungswirt Jens Lehmann hat sein Amt als neuer Präsident des Landeskirchenamts Hannover in anspruchsvollen Zeiten angetreten. Auf dem Tisch des Verwaltungschefs der größten evangelischen Landeskirche Deutschlands liegen unter anderem Herausforderungen wie ein schrumpfender landeskirchlicher Haushalt, die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt sowie Reformen der Kirchenverwaltung. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erläutert der 52-Jährige, wie er diese Aufgabenvielfalt angehen will.

Herr Lehmann, Sie sind seit Juli, also etwas länger als die symbolischen 100 Tage, in Ihrem neuen Amt und haben einen ersten Überblick gewonnen. Wo liegen die zentralen Herausforderungen im Landeskirchenamt?

Jens Lehmann: Es gibt natürlich eine Vielzahl an Themen, die eine zentrale Frage eint: Wie können wir Verwaltungsabläufe verschlanken? Ist wirklich ein umfassendes Genehmigungsverfahren in Hannover nötig, wenn etwa eine Gemeinde in Ostfriesland ein Grundstück verkaufen will oder bauliche Maßnahmen am Gemeindehaus plant? Trotz einer Fülle rechtlicher Vorgaben, die wir als zentrale kirchliche Behörde erfüllen müssen, kann ich verstehen, dass vor Ort mitunter Ungeduld, womöglich auch Verdruss herrschen. Wir sollten also kritisch prüfen, wie wir Prozesse im Sinne aller Beteiligten deutlich beschleunigen.

Wie wollen Sie das erreichen?

Lehmann: Ich glaube, wir sind gut beraten, den Kirchenkreisen und Einrichtungen mehr Verantwortung und Handlungsfreiheit zu übertragen. Ich würde mir wünschen, dass das Landeskirchenamt weniger als eine vielleicht etwas schwerfällige Behörde wahrgenommen wird, sondern als Service- und Beratungspartner. Wir haben hier so viel geballte Kompetenz: rechtlich, finanziell und theologisch. Alle, die sich an uns wenden, sollen den Eindruck haben: Die Menschen im Landeskirchenamt helfen mir kompetent und schnell weiter. Das geschieht schon an vielen Stellen, und ich erlebe im Haus große Bereitschaft und Lust, noch mehr in diesem Geist zu arbeiten.

In Zeiten rückläufiger Mitgliederzahlen und Steuereinnahmen muss die Kirche massiv sparen. Es heißt, der Haushalt der Landeskirche werde in den kommenden rund zehn Jahren um etwa ein Drittel kleiner werden. Was wird angesichts dieser Schrumpfung künftig noch möglich sein?

Lehmann: In der Tat stellen wir uns auf diese Dimensionen ein. Das trifft uns nicht überraschend, denn Untersuchungen wie die Freiburger Studie zur Kirchenmitgliedschaft, aber auch unsere Steuerprognosen, zeichnen uns dieses Szenario ja schon länger vor. Die Landessynode, unser Kirchenparlament, ist derzeit intensiv mit der Frage beschäftigt, wo die Landeskirche künftig Prioritäten setzen soll. Drei Ausschüsse schauen sich dafür derzeit ganz genau an: Was gibt es alles in unserer Landeskirche? Und was sind unsere Kernthemen und Kernkompetenzen, die wir als Kirche haben? Auf dieser Grundlage werden wir über Einsparungen diskutieren.

Wie sehen denn Ihre persönlichen Prioritäten aus?

Lehmann: Ich denke, es ist wichtig, dass unsere Kirche in der Fläche, also vor Ort, ein Anlaufpunkt bleibt. Die Kirche sollte eine hörbare Stimme bleiben - und für die Menschen in wichtigen Lebenssituationen da sein: bei Taufe, Schulanfang, Konfirmation, Trauung, Beerdigung und immer dann, wenn sie spüren, dass unsere Botschaft, das Evangelium, für sie wichtig ist. Die Herausforderung ist: Wie können wir uns in Zukunft auch mit weniger Mitteln so aufstellen, dass diese Botschaft ankommt? Und dort, wo das nicht oder nicht mehr geschieht, werden wir unser Engagement auch zurückfahren oder aufgeben.

Ein weiteres zentrales Thema ist die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der Landeskirche. Die zuständige Fachstelle der Landeskirche wurde – auch in Reaktion auf die für die evangelische Kirche hochproblematischen Befunde der ForuM-Studie – personell aufgestockt und Ihnen als Präsident des Landeskirchenamts direkt zugeordnet. Was bedeutet das für die Unabhängigkeit der Fachstelle?

Lehmann: In ihrer Arbeit und in ihrem Umgang mit den Betroffenen sind die Mitarbeitenden der Fachstelle vollkommen weisungsfrei. Ich mache keine Vorgaben dazu, mit wem die Kolleginnen und Kollegen sprechen, was sie recherchieren oder welche Akten sie einsehen. Ich bin für den organisatorischen Rahmen verantwortlich, dafür, dass die Fachstelle personell gut ausgestattet ist und gute Arbeitsvoraussetzungen bestehen, damit betroffene Personen die bestmögliche Unterstützung bekommen.

Was hat sich seit der ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie Deutschland im hannoverschen Landeskirchenamt verändert?

Lehmann: In der Fachstelle gibt es seit Veröffentlichung der ForuM-Studie spürbar mehr Anfragen. Das sind betroffene Personen, aber auch weitere, die Informationen benötigen oder um Unterstützung bitten. Ich erlebe auch eine zunehmende Sensibilisierung und eine weiter wachsende Bereitschaft bei ganz vielen Menschen in der Kirche, sich mit dem Thema sexualisierte Gewalt zu beschäftigen. Es gibt zudem eine große Bereitschaft, betroffenen Personen wirklich zuzuhören und ihnen die Unterstützung zu gewähren, die ihnen über viele Jahre verweigert worden ist.

Wir haben alle Fälle von sexualisierter Gewalt, in denen die Beschuldigten noch leben, an die zuständige Staatsanwaltschaft gegeben. Und wir bitten betroffene Personen, sich bei uns oder externen Beratungsstellen zu melden und ihre Fälle auch bei der Polizei anzuzeigen, selbst wenn diese verjährt sind. Denn oft leben die Täter noch und haben womöglich weitere, noch nicht verjährte Taten begangen, so dass sich doch die Möglichkeit einer strafrechtlichen Verfolgung ergibt.

Im Zusammenhang mit der Aufarbeitung wurde unter anderem kritisiert, dass in vielen Landeskirchen ausschließlich die Disziplinarakten, also nur ein Bruchteil der Aktenbestände, ausgewertet worden ist. Wie geht es weiter?

Lehmann: Es ist unstrittig, dass die Sichtung im Rahmen der ForuM-Studie nicht ausreicht. Wir müssen in enger Abstimmung mit betroffenen Personen für alle Landeskirchen Standards schaffen, nach denen wir ein umfassendes Akten-Screening machen können. Zudem werden wir jetzt daran gehen, uns alle bekannten Fälle von sexualisierter Gewalt seit 1945 anzuschauen und ein Konzept für eine umfassende Aufarbeitung zu entwickeln. Wir sind es allen betroffenen Personen schuldig, dass ihre Fälle gewürdigt werden, dass wir ihr Leid anerkennen, um Entschuldigung bitten und Unterstützung anbieten.

Zu klären ist außerdem, wie und in welcher Höhe Entschädigungszahlungen zu leisten sind. Das Beteiligungsform Sexualisierte Gewalt Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat dazu klare Beschlüsse gefasst, die jetzt auch auf der Tagesordnung der EKD-Synode in Würzburg standen. Wann erfolgt die Umsetzung auf landeskirchlicher Ebene?

Lehmann: Bislang sind die einzelnen Landeskirchen unterschiedlich mit den Ansprüchen Betroffener umgegangen. Eine Vereinheitlichung sorgt für mehr Transparenz und Verlässlichkeit, das begrüßen wir ausdrücklich. Derzeit sind die maßgeblich vom Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt der EKD erarbeiteten Richtlinien noch in der Prüfung der einzelnen Landeskirchen, also auch bei uns. Ich bin zuversichtlich, dass wir sie schnell umsetzen werden.

epd-Gespräch: Daniel Behrendt und Julia Pennigsdorf