„Eine einfache Nachfrage kann Leben retten“

Sandra Brünger ist Leiterin der Zentralen Beratungsstelle des Diakonischen Werks Hannover und seit über 20 Jahren in der Wohnungsnotfallhilfe tätig. Im Interview erzählt sie von der aktuellen Lage obdachloser Menschen und was sie sich für das neue Jahr wünscht.
Ein schwarz-weiß-Bild zeigt einen wohl obdachlosen Mann, der mit einige Habseligkeiten auf der Straße vor einem Laden sitzt.
Bild: Diakonisches Werk Hannover
Eine blonde Frau, die Haare hinten zusammengenommen, mit Brille und blauem T-Shirt lächelt vor einem grauen Hintergrund.
Sandra Brünger ist Leiterin der Zentralen Beratungsstelle des Diakonischen Werks Hannover und seit über 20 Jahren in der Wohnungsnotfallhilfe tätig.

Frau Brünger, erst Dauerregen, dann Hochwasser und nun Kälte – wie geht es den wohnungslosen Menschen im Moment? 

Brünger: Das Leben auf der Straße ist zu jeder Jahreszeit besonders herausfordernd. Im Sommer war es die Hitze, dann kam der Dauerregen, welcher das Hochwasser mit sich brachte. Es war schwierig für die Menschen auf der Straße, überhaupt trocken zu bleiben. Nicht nur die Kleidung, auch Schlafsäcke und Isomatten sind bei Dauerregen schnell durchnässt. Es ist wirklich schwierig, die Menschen und ihre Sachen trocken zu bekommen. Für sie ist es wichtig, gar nicht erst krank zu werden, weil sie keinen Ort zum Auskurieren haben. Auf der Straße verschlimmert sich die gesundheitliche Situation, die Genesung ist schwieriger. Aktuell kommen noch Kälte und Schnee hinzu, welche die Situation für Menschen auf der Straße noch einmal drastisch verschlimmern, da Erfrierungen drohen.

Was brauchen Sie gerade besonders an Spenden?

Brünger: Schlafsäcke und Isomatten natürlich sehr gern. Aber wir würden uns genauso freuen, wenn Menschen ihre Zeit geben möchten, gern auch zum Abholen von Brötchenspenden oder bei der Ausgabe von Lebensmitteln. Und wenn es nur einmal im Monat ist – jede helfende Hand ist herzlich willkommen.

Für mindestens eine Person gab es diesen Winter keine Hilfe: vor kurzem hat ein Rollstuhlfahrer in Hannover die Nacht nicht überlebt. Wie gehen Sie mit solchen Nachrichten um?

Brünger: Wir sind sehr geschockt und betroffen. Wir haben noch keinen Namen zu dem Mann, aber Todesnachrichten sind immer emotional für uns, weil wir viele wohnunglose Menschen schon über Jahre kennen und bei aller Professionalität natürlich auch Beziehungen aufbauen. Einmal im Jahr gibt es eine Gedenkfeier für alle Verstorbenen, das ist wichtig. Es geht uns natürlich nah, wenn die Hilfe jemanden nicht rechtzeitig erreicht. Leider passiert das immer wieder. Daran sieht man, wie wichtig es ist, dass jede und jeder die Augen offenhält und Menschen anspricht, die draußen sitzen oder liegen. Einfach fragen, ob alles in Ordnung ist oder Hilfe gebraucht wird und bei Bedarf den Krankenwagen zu rufen, kann Leben retten. Lieber Gefahr laufen, eine Ablehnung zu erhalten, als keine Unterstützung anzubieten.

Wie sehen Sie die Wohnungsnotfallhilfe insgesamt aufgestellt?

Brünger: Gerade hier in der Region und der Stadt Hannover gibt es ein wirklich gutes Ineinandergreifen der verschiedenen Hilfsangebote, sei es das Zahnmobil, die stationären und ambulanten Dienste, die Unterkünfte, spezielle Angebote für Frauen, etc. Das ist schön und diese Vielfalt nicht selbstverständlich. Manches ist noch in der Entwicklung, zum Beispiel das Thema tagesstrukturierende Angebote für wohnungslose Menschen.

Sie sind seit über 20 Jahre in der Wohnungsnotfallhilfe tätig – hat sich in Ihrer Wahrnehmung etwas verändert?

Brünger: Ja und nein. Die grundlegenden Problematiken sind dieselben: Es kann jeden und jede treffen, plötzlich ohne Arbeit, ohne Wohnung dazustehen. Ich finde es unglaublich wichtig, kontinuierlich die soziale Anwaltschaft für wohnungslose Menschen zu übernehmen. Wofür es keine gesicherte Statistik gibt, womit wir aber zunehmend zu tun haben, sind wohnungslose Menschen mit gravierenden psychischen Erkrankungen. Und wir nehmen wahr, dass die Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft gestiegen ist. Nach allem, was wir hören und sehen, hat sich das verschärft.

Wie sehen Sie ins Jahr 2024?

Brünger: Wir hoffen auf eine Weiterentwicklung der Angebote, dass zum Beispiel das, was aktuell im Projektstatus ist, in dauerhafte Lösungen überführt werden kann. Wir wünschen uns natürlich auch mehr bezahlbaren Wohnraum, um mehr Menschen in Wohnungen vermitteln zu können – das ist ein großer Wunsch. Und uns allen wünsche ich persönlich einen wachen und wertschätzenden Blick für unsere Mitmenschen.

Eine blonde Frau, die Haare hinten zusammengenommen, mit Brille und blauem T-Shirt lächelt vor einem grauen Hintergrund.
Sandra Brünger ist Leiterin der Zentralen Beratungsstelle des Diakonischen Werks Hannover und seit über 20 Jahren in der Wohnungsnotfallhilfe tätig.
Christine Warnecke/EMA