Die Tür ist offen

Andacht zum 3. Sonntag nach Trinitatis
Zwei Hände öffnen eine Tür. Durch den offenen Türspalt dringt Sonnenlicht.
Bild: Canva Pro

Die Autorin

Eine jüngere Frau lächelt in die Kamera.
Bild: privat
Dorothee Beckermann

Dorothee Beckermann ist Diakonin in der Region Linden-Limmer.

Jetzt steht er da. Im Haus ist das Fest in vollem Gange. Alle feiern die große Heimkehr. Die Verwandten ausgelassen, der Vater überglücklich, der Bruder überwältigt von diesem Empfang. Nur er selbst steht auf der Schwelle und kann es nicht fassen. Einfach mitfeiern? Einfach vergessen, was hinter ihm liegt? Die Trauer des Vaters, die er jeden Tag gespürt hatte. Das Gefühl der Verpflichtung, dass er seinen Vater nun nicht auch noch enttäuschen darf. Die Last der Verantwortung, dass die Zukunft des Familienbetriebs jetzt allein von ihm abhängt. Die Sorge, mit einem winzigen Fehler oder einer vorschnellen Entscheidung alles zerstören zu können. Die tief verinnerlichte Überzeugung, sachlich sein und auf ausschweifende Wünsche verzichten zu müssen. Er hatte gesehen, wie der Vater litt. Wollte es wieder gut machen. Wollte den Verlust ausgleichen. Und spürte jeden Tag, dass all das nicht reichte. Täglich meinte er, im Blick seines Vaters den Schmerz und die Sehnsucht zu erkennen. Er würde sich einfach noch mehr anstrengen, um alles wieder gut zu machen…

Und jetzt, wo der Kleine alles verprasst hat und wieder angekrochen kommt, ist einfach alles vergeben und vergessen? Jetzt soll er einfach feiern? Bis eben war er sich so sicher, dass er alles richtig gemacht hatte. Er war vernünftig gewesen. Er hatte sich um den Vater gekümmert. Er hatte seine eigenen Bedürfnisse stets verleugnet. Er hatte alles gegeben, um wenigstens einen Hauch von Normalität aufrecht zu erhalten. Und er hatte nicht bemerkt, wie bitter er im Laufe der Zeit geworden war. Er war immer für alles zuständig, wollte alle Erwartungen erfüllen und hatte sich dabei selbst verloren. Ein Schatten hatte sich auf ihn gelegt. Schwer wie Blei. Musik dringt durch das offene Fenster und er ringt um Fassung. Dort auf der Türschwelle, wo gerade alles ins Wanken gerät, an dem er sich die letzten Jahre festgehalten hatte.

Der Vater steht in der offenen Tür. Sein Blick sagt: Niemals habe ich von dir erwartet, dass du dich selbst aufgibst. Niemals solltest du dein Leben für mich opfern. Niemals habe ich gewollt, dass du vergisst, wer du eigentlich bist. Vernunft und Pflichtgefühl haben dich so klein gemacht, dass für die Liebe kein Platz mehr war. Aber glaub mir: Was mein ist, ist dein. Du sollst nehmen, was du brauchst. Es ist genug für alle da, denn die besten Dinge werden mehr, wenn wir sie teilen.

Kannst du loslassen und dich mitfreuen? Die Tür ist offen. Komm!

Die Autorin

Eine jüngere Frau lächelt in die Kamera.
Bild: privat
Dorothee Beckermann

Dorothee Beckermann ist Diakonin in der Region Linden-Limmer.

Predigttext,
Lk 15,1–3.11b–32
1 Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. 2 Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen. 3 Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Ein Mensch hatte zwei Söhne. 12 Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und er teilte Hab und Gut unter sie. 13 Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen. 14 Als er aber alles verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land und er fing an zu darben 15 und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. 16 Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm. 17 Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger! 18 Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. 19 Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich einem deiner Tagelöhner gleich! 20 Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn, und er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn. 21 Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße. 22 Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße 23 und bringt das gemästete Kalb und schlachtet’s; lasst uns essen und fröhlich sein! 24 Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein. 25 Aber der ältere Sohn war auf dem Feld. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen 26 und rief zu sich einen der Knechte und fragte, was das wäre. 27 Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiederhat. 28 Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn. 29 Er antwortete aber und sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich wäre. 30 Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet. 31 Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein. 32 Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.
Dorothee Beckermann