Was ist in unseren Kirchen schon gesungen worden! Alte Lieder und neue Lieder. Wie sehr haben Menschen ihr Leben in die Lieder gegeben. Lieder, die sie nicht selbst komponiert haben. Worte, die sie sich nicht selbst ausgedacht haben. Fremde Lieder können ein Schutz sein. Menschen fliehen da hinein und finden sich darin wieder. Sie finden Schutz in frommen Liedern, auch wenn sie selbst nicht wissen, ob sie sich überhaupt in Gottes Hand befinden. Heinrich Heine, der sich darüber nicht immer so sicher war, ob er sich in Gottes Hand befindet, der hat ein schönes Gedicht dazu geschrieben, es heißt „Heimkehr“:
In mein gar zu dunkles Leben / Strahlte einst ein süßes Bild;
Nun das süße Bild erblichen, / Bin ich gänzlich nachtumhüllt.
Wenn die Kinder sind im Dunkeln / Wird beklommen ihr Gemüt.
Und um ihre Angst zu bannen, / Singen sie ein lautes Lied.
Ich, ein tolles Kind, ich singe / Jetzo in der Dunkelheit;
Klingt das Lied auch nicht ergötzlich, / Hat’s mich doch von Angst befreit.
Ein Lied, das von Angst befreit. Wie das wohl sein kann? Ein professioneller Sänger, das stand mal zu lesen, der beleuchtet das, was er singt, von innen. Erst dann gelingt es ihm, wirklich Musik zu machen. Wieviel mehr muss das für unsere Kirchenlieder gelten. Wer eins singt, wird von innen beleuchtet. Da ist mehr als nur das Notenbild oder die Kompositionsstruktur in unseren Liedern. Wer singt, beleuchtet den Text von innen und wer Kirchenlieder singt, wird selbst von innen beleuchtet, jetzo in der Dunkelheit. Gerade bei uns wortlastigen Protestanten ist das gut zu wissen. Es ist etwas an unseren alten Liedern, das über den einzelnen Menschen hinaus geht, etwas, das einen heil macht und – wie Heinrich Heine sagt – von Angst befreit.
Neue Lieder sind auch schön. Aber es ist noch unklar, ob sie im Dunklen helfen. Bei alten Liedern ist das anders. Ich singe sie und bin verbunden mit Menschen, die vor mir da waren. Sie haben ihre Dunkelheit längst hinter sich. Während ich mich frage, ob es überhaupt was bringt, von Gott zu singen, wenn mir einfach nicht zum Jubeln ist, haben meine Glaubensväter und -mütter schon einen helleren Raum betreten. Man sagt, ihre Lieder seien wie Mäntel, in die sich die Früheren eingehüllt haben, um warm und trocken zu bleiben, während ich noch im Regen stehe. Ich darf mir diese Hoffnungslieder der Alten leihen, so wie ich mir die alten Texte der Bibel leihe. Ich muss mein Heil nicht selbst erfinden. Das klingt vielleicht unzeitgemäß in einer individualisierten Gesellschaft, die mir sagt: Du musst Dein eigenes Lied singen, finde Dein Lied und dann singe es! Nein, keiner von uns muss nur er selber sein, immer wieder von vorne, immer wieder von Null an. Keiner von uns singt nur sein eigenes Lied, wir alle stimmen in einen größeren Gesang ein. Jeder und jede von uns kann den angegebenen Ton aufnehmen und weitersingen. Klingt das Lied auch nicht ergötzlich, / Hat’s mich doch von Angst befreit. Das ist nämlich Kirche: Einstimmen in einen großen Klang, einen Gesang, der das Leben preist.
Amen.
Offenbarung 15,2–4