Er ist zum Trauergespräch zu mir gekommen. Sehr vorsichtig nimmt er die Bibel aus seiner Tasche. „Da liegen überall diese Zettel drin, wissen Sie.“ Bis zu ihrem Tod hatte seine Großmutter darin gelesen. Und geschrieben. Auf die Randspalten, auf Zettel, die zwischen den Seiten stecken. Und nicht erst sie hatte ihre Gedanken festgehalten, ihre Fragen, ihre Gebete. Schon Generationen vorher muss die Bibel in Gebrauch gewesen sein. Viele Handschriften. Vieles schwer zu entziffern, manches gar nicht mehr. Ein Schatz, keine Frage. Und so behandelt der Enkel auch dieses Buch – mit großer Ehrfurcht. Ein familiärer Ausschnitt aus der Wolke der Zeugen – zwischen zwei Buchdeckeln.
Der Verfasser des Hebräerbriefes spricht von Glaubenszeugen. Weil es so viele sind, nennt er sie eine Wolke oder im Griechischen einen Nebel von Zeugen. Diese Wolke umgab bereits die Adressaten des Briefes, und diese Wolke umgibt uns heute noch immer. Sie ist sogar größer und dichter geworden, angereichert durch all die Christinnen und Christen, die seit zweitausend Jahren zu ihrem Glauben stehen und ihn leben.
Die Glaubenszeugen und -zeuginnen sind also so zahlreich wie viele kleine Wassertröpfchen, die zusammen eine dicke Wolke bilden. Zu Zeugen und Zeuginnen sind diese Menschen durch ihre eigene Lebens- und Glaubensgeschichte geworden. Ihr Leben zeigt uns, wie der Glaube ein Leben prägen kann.
Die katholische Kirche kennt die Heiligen als Glaubenszeugen. Ihnen sind bestimmte Tage im Kirchenjahr gewidmet, damit Christinnen und Christen an ihre Biographien erinnert werden.
Spannend sind die Geschichten, die von Menschen erzählen, deren Gesicht niemals in irgendeiner Zeitung oder einem Geschichtsbuch aufgetaucht ist, die wir aber selbst erlebt haben.
Um meinen Glauben zu festigen, sind also diese mutigen Menschen da zum Anlehnen, die ihrem Leben oder der Welt immer wieder eine positive Wendung gegeben haben. Vor allem aber waren es Menschen, die stets ihre Gottesbeziehung wachgehalten und ihrem Gott durch ihre Zweifel oder Krisen hindurch die Treue gehalten haben. Diese Zeugen brauche ich, weil ihre Geschichten meinen Glauben stärken. Ich brauche sie, damit es mir in schweren Zeiten gelingt, mein Kreuz zu tragen, ohne mutlos zu werden.
„Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens.“ In der Wolke von Zeugen finden sich Menschen, an deren Glauben und Lebenserfahrung ich wachsen kann.
Jesus ist dagegen ein Zeuge anderer Art. In ihm sammelt Gott die ganze Bandbreite menschlicher Erfahrung. Jesus legt bei Gott Zeugnis davon ab, was es bedeutet, Mensch zu sein. Durch ihn weiß Gott, wie es sich anfühlt, sein Kreuz zu tragen. In ihm erfährt er am Palmsonntag, wie Menschen begeistert Zeugnis davon ablegen, dass er etwas Besonderes ist und im Namen Gottes kommt. Und in ihm erfährt er auch, was es wenige Tage später bedeutet, wenn sich die meisten Zeugen plötzlich gegen ihn wenden. Er wird verraten und er geht daran zugrunde. Jesus ist zum Zeugen dessen geworden, was es heißt, ein verletzlicher, angreifbarer Mensch zu sein. Damit hat er unser Empfinden Gott nahegebracht.
Deshalb können wir uns heute auf beides stützen. Die Zeugenaussage von Jesus bringt uns Gott näher. Gott versteht menschliche Bedürfnisse und Leiden. Und eine Wolke von Zeugen und Zeuginnen spendet uns Kraft, weil ihre Lebens- und Glaubenserfahrungen für uns als Ermutigung dienen. Denn sie haben sich bereits vor uns auf Gott und auf den einen Zeugen anderer Art, nämlich auf Christus, verlassen.
Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens.
Und ohne es groß zu wollen, werden wir selbst zu Tropfen in der Wolke der Zeugen.
Amen.
Hebräerbrief 12, 1-3