Knapp eine Million Menschen sind seit der Invasion der Ukraine nach Deutschland geflüchtet. Yuliia Sierhieieva half schon in der Ukraine Geflüchteten und musste dann selbst fliehen – in Winsen angekommen hilft sie nun wiederum Geflüchteten und ist froh über die Anlaufstelle im Kirchenkreis.
Frau Sierhieieva, die psychologische Behandlung von kriegstraumatisierten Menschen ist eine sensible Angelegenheit. Das Erlebte zu verarbeiten, braucht Zeit. Verstehen Sie sich als Langzeittherapeutin oder erste Anlaufstelle?
Sierhieieva: Derzeit arbeite ich als Koordinatorin für ukrainische Geflüchtete im Kirchenkreis Winsen und biete bei Bedarf psychologische Beratung an. Eines der ersten Dinge, die ich in dieser Position getan habe, war die Erstellung eines Fragebogens, um die Bedürfnisse und Probleme der ukrainischen Schutzsuchenden in Deutschland zu ermitteln. Und das waren zunächst vor allem organisatorische Fragen im sozialen Bereich: das Ausfüllen einer Vielzahl von Dokumenten, die Suche nach einer eigenen Wohnung, die Arbeitssuche - denn niemand wollte den Gastfamilien zur Last fallen, was durch die Sprachbarriere erschwert wurde. Nach meinen Beobachtungen war die Interaktion zwischen Ukrainerinnen und Ukrainern und der deutschen Gastgemeinde bei den so genannten "Friedenscafés" in Kirchen hervorragend. Es gab Tage, an denen die Geflüchteten zusammenkommen und sich über ihre Erfahrungen und Probleme austauschen konnten.
Sehr wichtig war auch die Unterstützung durch eine große Zahl von fürsorglichen deutschen Freiwilligen, die auf vielfältige Weise halfen: Es gab Hilfen beim Ausfüllen von Formularen und Papieren, bei der Beschaffung von Kleidung und Dingen des täglichen Bedarfs für neu angekommene Ukrainer, bei der Suche nach den richtigen Ärzten. Ehrenamtliche haben beim Lernen der grundlegenden deutschen Wörter und Sätze oder bei der Organisation von Freizeitaktivitäten für Kinder geholfen.
Später war der Bedarf an geistlicher Unterstützung groß, denn in den schwersten Tagen wurden viele Menschen durch Gebete und Beistand unterstützt. So begannen wir, zusammen mit den Pastoren des Kirchenkreises Winsen, gemeinsame Gottesdienste in deutscher und ukrainischer Sprache zu halten. Zu meinen Aufgaben gehört es auch, mit denjenigen in Kontakt zu treten, die zusätzliche Unterstützung oder soziale und psychologische Hilfe benötigen. Nach der ersten Kontaktaufnahme helfe ich je nach Komplexität des Anliegens selbst oder nenne ihnen die entsprechenden Fachleute.
Gibt es spezielle Therapieformen für Menschen, die durch den Krieg traumatisiert sind? Wie unterscheidet sich Ihre Beratung hier von den Therapiestunden, die sie in der Vergangenheit abgehalten haben?
Sierhieieva: Eines der Projekte, an denen ich seit 2016 arbeite, ist das CETA-Programm (Common Elements Treatment Approach), das von Experten der Johns Hopkins University entwickelt wurde. Es basiert auf evidenzbasierten Behandlungen für Depressionen, Angstzustände, Drogenkonsum sowie trauma- und stressbedingte Störungen. Seit den Angriffen von 2014 und den russischen Besetzungen ukrainischer Gebiete im Osten und auf der Krim arbeiten wir im Rahmen dieses Programms mit Veteranen, also mit Soldaten, die ihren Dienst beendet haben und ins zivile Leben zurückgekehrt sind. Ebenso mit ihren Familienangehörigen und Geflüchteten aus den von Russland besetzten Gebieten. Wir konnten diese Methoden anwenden, wenn jemand bereits in Sicherheit war und sein Leben nicht mehr in Gefahr war, um so eine Verschlechterung des psychischen und körperlichen Zustands zu vermeiden. Nach Beginn der groß angelegten russischen Invasion vor einem Jahr haben unsere Kollegen von der Johns Hopkins University ein aktualisiertes Programm entwickelt und Berater aus der Ukraine darin geschult - CETA Psychosocial Support (CPSS). Das Programm ist so aufgebaut, dass der Berater Betroffenen in jeder Sitzung neue Techniken beibringt, die helfen, Stress und Ängste abzubauen, produktive Denkfähigkeiten zu entwickeln, die Aktivität oder Problemlösungsfähigkeiten wiederherzustellen – natürlich im Zusammenhang mit dem laufenden Krieg.
Wie wirkt sich die Belastung durch Krieg und Flucht bei den Frauen aus, lassen sich auch körperliche Symptome erkennen?
Sierhieieva: Menschen, die in ihrem Leben Schlimmes erlebt haben, können Angstzustände, Depressionen, Wut, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafprobleme oder Appetitlosigkeit, vermehrtes Weinen oder - im Gegenteil - Gefühllosigkeit erleben. Auch körperliche Symptome wie Herzklopfen, Übelkeit, Brustschmerzen, Migräne und die Verschlimmerung chronischer Krankheiten können auftreten, manchmal erst bis zu zwei Jahre nach dem traumatischen Ereignis. Leider haben sie manchmal sogar Gedanken, sich selbst oder andere zu verletzen. Diese Reaktionen sind nach dem Erleben eines belastenden oder traumatischen Ereignisses normal, aber es ist wichtig, sie rechtzeitig zu erkennen und professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es ist jedoch nicht zwangsläufig so, dass eine Person jede dieser Reaktionen erleben muss. Wir sind alle unterschiedlich, und ein und dasselbe Ereignis kann uns auf unterschiedliche Weise treffen.
Auch geflüchtete Kinder haben in ihrem Heimatland Schreckliches erlebt und sind mit fürchterlichen Bildern im Kopf geflüchtet. Auch auf der Flucht nach Deutschland mussten sie unglaubliche Strapazen überwinden. Wie äußert sich das Erlebte – und nehmen sie die Belastung anders als Erwachsene wahr?
Sierhieieva: Ja, es ist auch für Kinder eine große Belastung, auch für diejenigen, die vielleicht keine aktiven Kampfhandlungen miterlebt haben. Dazu gehören die plötzliche erzwungene Flucht aus ihrer Heimat, begleitet von langen Warteschlangen an der Grenze, Unverständnis für das, was geschieht, Trennung von Eltern, Freunden und Klassenkameraden, Haustieren, Angst um das Leben derjenigen, die in der Ukraine geblieben sind, Schwierigkeiten bei der Anpassung an ein neues soziales Umfeld und wiederum die Sprachbarriere während des Bildungsprozesses.
Außerdem spüren und übernehmen Kinder immer den Zustand der Erwachsenen, die sich um sie kümmern. Und je nach Alter der Kinder können wir Erscheinungen wie Rückzug, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, Stimmungsschwankungen, Apathie oder im Gegenteil übermäßige Mobilität, Alpträume, Schlaf- und Essstörungen, häufiges Weinen beobachten, Angst vor Neuem, Zwanghaftigkeit und Angst, den Erwachsenen, der sich um das Kind kümmert, aus den Augen zu verlieren, Rückschritte im Verhalten, also Verlust von Fortschritten in den Entwicklungsphasen des Kindes - Verlust der Sprachfähigkeit, Schwierigkeiten beim Toilettengang, nächtliches Einnässen. Kinder, die Bombenangriffe und Beschuss miterlebt haben, werden in fast allen Fällen durch laute Geräusche verängstigt, insbesondere durch die Geräusche von Flugzeugen am Himmel, Autos und Feuerwehrsirenen, die negative Assoziationen und sofortige Reaktionen hervorrufen. Für die Eltern ist es wichtig, diese Signale rechtzeitig zu erkennen und professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. In Gesprächen mit Eltern zeige ich ihnen, wie sie sich um Kinder kümmern können, die unter akutem Stress stehen.
Was machen Sie persönlich, um mit dem Erlebten in der Ukraine, aber auch mit den teilweise ja dramatischen Schilderungen Ihrer Klientinnen, umgehen zu können?
Sierhieieva: Am Anfang war es sehr schwierig für mich, mich als Flüchtling zu erkennen und zu fühlen, denn ich war es gewohnt, Hilfe zu geben und nicht zu empfangen. Und es dauerte einige Zeit, bis ich mich bereit fühlte, als Psychologin mit anderen Menschen zu arbeiten, denn in meinem Beruf geht es in erster Linie darum, keinem anderen Menschen zu schaden. Der Schlüssel zum Erfolg ist vor allem, sich um seine eigene psychische Gesundheit zu kümmern. Persönliche Sitzungen mit einem Psychotherapeuten und tägliche Rituale der Selbstfürsorge helfen mir dabei: Urlaubsplanung, Zeit in der Natur, körperliche Betätigung, spirituelle Praktiken wie Gebete und Meditation und das Einüben von Entspannungsmethoden. So habe ich den Zyklus der Entspannungskurse entwickelt, die ich zweimal wöchentlich in Winsen mit Ukrainern durchführe. In diesen Kursen üben wir Techniken der progressiven Muskelentspannung, gewaltfreie Kommunikation, das Aufstellen eines Plans mit Bewältigungsstrategien, Körperscanning, geführte Bilder oder Atemübungen. Die Aufrechterhaltung meines eigenen Wohlbefindens sowie regelmäßige Supervisions- und Interventionssitzungen mit meinen Kollegen helfen mir, anderen professionell zu helfen. Die frühere Erfahrung in der Arbeit mit Menschen, die vom militärischen Konflikt in der Ukraine seit 2014 betroffen sind, hilft mir ebenfalls. Denn all das Grauen, das Sie jetzt sehen, widerfährt den Ukrainern in einigen Landesteilen schon seit neun Jahren.
Wie sehen Sie Ihre persönliche Zukunft?
Sierhieieva: Ich glaube aufrichtig daran, dass mein Land in Zukunft gedeihen und sich entwickeln wird, und natürlich sehe ich meine glückliche Zukunft in meiner Heimat. Es wird eine Zeit kommen, in der wir Ukrainer nach Hause zurückkehren werden: einige von der Front, andere aus der Zwangsemigration. Und wir werden noch lange Zeit sehen, wie sich die Folgen des Krieges bei jedem von uns auf unterschiedliche Weise bemerkbar machen. Aber wir werden es sein, die unser Land wieder aufbauen müssen. Deshalb rufe ich schon jetzt meine Landsleute auf, nicht nur an eine bessere Zukunft zu glauben und auf den Sieg zu warten, sondern sich auch die Kenntnisse und Fähigkeiten anzueignen, die uns dabei helfen werden. Und ich sehe meine persönliche Berufung darin, den Menschen zu beizustehen, ihnen auf dem Weg der Selbstfindung zu helfen und ihre emotionalen Wunden zu heilen. Schließlich ist eine gesunde, glückliche und erfolgreiche Bevölkerung der Schlüssel zu einem freien und unabhängigen Land.
Woher nehmen Sie Ihre Motivation, Ihre Arbeit nach der Flucht in Deutschland fortzusetzen, statt selbst erst einmal zur Ruhe zu kommen und das Erlebte zu verarbeiten?
Sierhieieva: Als der militärische Konflikt in der Ukraine begann, war unserer Familie klar, dass Russland mit der Annexion der Krim und von Teilen des Donbass nicht aufhören würde und dass der Tag kommen würde, an dem eine Großoffensive beginnen würde - es war nur eine Frage der Zeit. Deshalb stellte sich jeder von uns an seine eigene Frontlinie - mein Mann meldete sich 2015 freiwillig zur Armee, meine Schwester begann ein Studium in Militärwissenschaft und unterschrieb einen Vertrag als Reservistin bei der Territorialen Verteidigung von Kiew, und ich begann eine Zusatzausbildung in Psychologie, um den vom Krieg Betroffenen qualifizierte Hilfe zu leisten. Daher kam der 24. Februar 2022 für uns nicht unerwartet, auch wenn wir nicht an den schlimmsten aller Fälle glauben wollten. Nach meiner Flucht fiel es mir schwer, die Tatsache zu akzeptieren, dass ich mich an einem sicheren Ort befand, während mein Vater, mein Onkel und Freunde unter russischer Besatzung mitten im Kriegsgeschehen standen und andere an der Front waren. Ich fühlte mich machtlos und hilflos und hatte den unbeschreiblichen Wunsch, in die Ukraine zurückzukehren und etwas Gutes zu tun, aber ich war mit den drei Kindern meiner Schwester in Deutschland und trug die Verantwortung für sie. Später wurde mir jedoch klar, dass es in meiner Umgebung viele Ukrainer gab, die Unterstützung brauchten, und dass ich über Erfahrungen und Kenntnisse verfügte, die hier in Deutschland nützlich sein könnten. So begann ich als Koordinatorin für Ukrainer im Kirchenkreis Winsen zu arbeiten. Natürlich hatte ich auch sehr schwierige Tage, vor allem, wenn es keine guten Nachrichten aus der Ukraine gab, aber ich habe mich nicht von meinen ängstlichen Gedanken leiten lassen und habe immer den Glauben in mir bewahrt, dass wir Ukrainer mit allem fertig werden können, vor allem, weil wir die Unterstützung der gesamten zivilisierten Welt haben.
Ich mag Metaphern sehr gern. Eine davon, die mir persönlich hilft, ist die Geburt eines neuen Lebens. Bei der Geburt eines Kindes muss eine Frau schreckliche Qualen und unbeschreibliche Schmerzen erleiden. Diesen Prozess würde niemand als angenehm bezeichnen, aber das Ergebnis dieses Leidens ist ein neues Leben. In ähnlicher Weise erleben wir jetzt die Wiedergeburt unserer Nation, und ich glaube aufrichtig, dass nach all dem Leid eine neue Entwicklungsstufe, eine neue - glückliche und freudige - Zukunft auf uns wartet. Und wir haben die einmalige Chance, in dieser schwierigen, aber aufregenden Zeit zu leben und eine neue Geschichte zu schreiben.