Was wäre die deutsche Nationalmannschaft ohne Gündogan, Moukoko oder Sané? Auch in der Bundesliga spielen Männer und Frauen mit internationalen Namen, von denen einige in Deutschland mit Migrationshintergrund aufgewachsen sind. Die Verschmelzung von Kulturen begegnet uns überall im Alltag – in der Schule, beim Einkaufen, im Job. Aber in der Kirche?
In der Gemeindearbeit oder in den Kirchenvorständen begegnet man kaum anderssprachigen Menschen. Hier ist die Beteiligung von Christinnen und Christen anderer Herkunft immer noch nicht selbstverständlich, obwohl der größte Teil zugewanderter Menschen in Deutschland einer christlichen Kirche angehören.
Damit sich das in Zukunft ändert, sind Pastor Dr. Jobst Reller und Nadia El Karsheh eine Stelle angetreten, die von der Landeskirche in ihren Anfängen einst als Iranseelsorge gegründet und im Laufe des vergangenen Jahres zum Projekt „Förderung der Teilhabe von Kirchenmitgliedern mit Migrationshintergrund“ ausgeweitet wurde.
Der Arbeitstitel klingt ein wenig hölzern, die Funktion, die die beiden bekleiden, ist geläufiger: Sie sorgen sich um Menschen. Und darum, dass in der Kirche Strukturen bedacht und geschaffen werden, damit Menschen mit anderer Sprache und Herkunft in den Kirchengemeinden ankommen. „Wir müssen vielerorts erst einmal Bewusstsein dafür schaffen, dass beispielsweise Russlanddeutsche oftmals schon in der zweiten oder dritten Generation hier leben und noch immer ihre geistliche Heimat suchen“, sagt El Karsheh. „Diese Menschen wollen den christlichen Glauben bei uns in Freiheit und ohne Angst leben, finden ihren Platz in der Gemeinde aber nicht.“
Geistliche Heimat
Als Tochter palästinensischer Eltern geboren, wächst Nadia El Karsheh in Deutschland zwischen zwei Kulturen auf und teilt sich somit das Schicksal mit zahlreichen anderen Zugewanderten, die aus ihren Heimatländern geflüchtet sind oder aber hier zur Welt gekommen sind. Eines unterscheidet die 49-Jährige dennoch von den meisten Migrantinnen und Migranten. Sie ist Christin und arbeitet als Pastorin in der Bonhoeffergemeine im hannoverschen Stadtteil Mühlenberg. Einem Quartier, in dem 78 Prozent der Bevölkerung ebenfalls einen interkulturellen Hintergrund haben.
„Das Projekt ist für mich ein großes Geschenk, weil es mein Leben spiegelt“, sagt El Karsheh. In einem interkulturellen Lektorenkurs als Baustein des Projekts bildet sie künftig Menschen aus den Gemeinden mit Migrationshintergrund aus. Ob Christen und Christinnen aus dem Iran, arabischen oder afrikanischen Ländern – sie alle sind in unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen und werden ihre Erfahrungen zunächst in die Ausbildung, später dann in die Gottesdienste einbringen. Ziel ist nämlich, dass die Teilnehmenden nach Abschluss des Kurses sowohl Gottesdienste gestalten und leiten, als auch Predigen ausarbeiten und halten. Sie sollen außerdem bei der Ausarbeitung von Konzeptionen und Vorhaben sowie bei der Stellenbesetzung in Kirche und Diakonie einbezogen werden. Und könnten den Kirchen so neue Gesichter, Blickweisen, Sprachen und spirituelle Ausdrucksformen geben.
Aber sind die Gemeinden bereit, sich für Neues zu öffnen? „Viele sind durch diese Situation stark herausgefordert und die Veränderungen werden nicht ohne Konflikte über die Bühne gehen. Aber es gibt auch etliche Gemeinden, die unser Vorhaben begrüßen und darin neue Chancen sehen“, sagt die Kursleiterin. Sie ist sich sicher, dass das Angebot viele Menschen ansprechen wird. Schließlich leben mehr 10 Millionen Christinnen und Christen in Deutschland, 14 Prozent davon sind Mitglieder der Evangelischen Landeskirche. „Unser Ziel ist es, dass ein vertrauter Rahmen geschaffen wird und wir möglichst zahlreichen Eingewanderten signalisieren: Du bist nicht nur willkommen, sondern ein Teil von uns“, sagt Nadia El Karsheh.
Die doppelte Besetzung des Projekts durch Reller und El Karsheh ist für Zugewanderte von Vorteil. Nadia El Karsheh ist hier aufgewachsen, fühlt sich durch die eigene Familiengeschichte gut aufgestellt für die Arbeit mit interkulturellen Christinnen und Christen. Jobst Reller ist in der Landeskirche für die kirchliche Begleitung von Menschen aus dem Iran zuständig. „Viele Iraner leben hier erstmals unbedrängt ihren christlichen Glauben, fühlen sich im Schutz der Religionsfreiheit der Kirche geborgen“, so der Pastor. Anders als die ukrainischen Flüchtlinge suchen sie geradezu den Kontakt zur Gemeinde, schildert Nadia El Karsheh. „Die Ukrainerinnen und Ukrainer docken bei uns oft nicht an, weil sie ihre Zukunft in ihrer Heimat sehen, sind aber ebenso willkommen.“