Hannover. Mit Blick auf den Holocaust-Gedenktag fordert der Chefredakteur der „Jüdischen Allgemeinen“, Philipp Peyman Engel, Antisemitismus aus allen Richtungen klar und deutlich zu benennen. In der medialen Berichterstattung gebe es „eine große Leerstelle“, sagte er im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst. Engel las am 27. Januar beim Hanns-Lilje-Forum in der Neustädter Hof- und Stadtkirche in Hannover aus seinem Buch „Deutsche Lebenslügen. Der Antisemitismus, wieder und immer noch“. Der Sohn einer aus dem Iran stammenden Jüdin und eines nichtjüdischen Deutschen ist seit 2023 Chefredakteur der „Jüdischen Allgemeinen“.
Herr Engel, wie nehmen Sie die Berichterstattung der Medien in Bezug auf Antisemitismus wahr?
Philipp Peyman Engel: Unsere Journalistenkollegen nehmen das Thema Antisemitismus von rechtsextremer Seite gottlob sehr ernst. Da ist das Bewusstsein stark ausgebildet. Ich stelle aber fest, und das ist auch der Eindruck, der mir von den jüdischen Gemeinden von Konstanz bis Kiel vermittelt wird, dass beim Thema linksorientierter und muslimischer Antisemitismus die Berichterstattung hinterherhinkt. Hier dürfen wir keinen Kulturrabatt geben. Zu sagen: Wir behandeln das Thema nicht, weil es Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremen bedeutet – diese Rechnung geht nicht auf. Wir Journalisten sollten ‚schreiben, was ist‘, das ist unsere Aufgabe.
In Bezug auf die anstehende Bundestagswahl: Sehen Sie genug Engagement und konkrete Handlungen der zur Wahl stehenden Parteien in Bezug auf Antisemitismus?
Engel: Ich nehme bei meinen Begegnungen mit Politikern wahr, dass CDU und FDP Themen rund um Israel und das Judentum sehr ernst nehmen und auch ins Parteiprogramm einfließen lassen. Bei Vertretern von SPD und Grünen ist das deutlich weniger der Fall. Spitzenpolitiker, ob das Außenministerin Baerbock ist, Bundespräsident Steinmeier oder Kulturstaatsministerin Claudia Roth, treten an den Holocaust-Gedenktagen mit bewegter Miene auf, sprechen von einem „nie wieder Antisemitismus“ und machen dann das komplette Gegenteil. Das zeigt sich, wenn zum Beispiel Steinmeier Erdoğan, der die Hamas als Widerstandsorganisation nennt, als werten Freund bezeichnet oder dem iranischen Regime zum 40-jährigen Bestehen gratuliert. Oder an Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, die Israel zu stark kritisiert, während sie gar nichts mehr zur Rolle des Iran und der Hamas sagt. Das steht diesem „nie wieder“ diametral entgegen. Bei der AfD darf sich keiner etwas vormachen. Sie ist eine geschichtsrevisionistische und brandgefährliche Partei. In ihr fühlen sich Antisemiten und andere Antidemokraten aus gutem Grund zu Hause. Und das BSW vertritt eine „Anti-Israel-Dogmatik“ und trägt damit auch zu einer israel- und judenfeindlichen Stimmung im Land bei.
Wie haben Sie die Reaktionen nach dem Terror-Anschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wahrgenommen?
Engel: Nach dem Terroranschlag der Hamas haben mich viel Empathie und viele solidarische Reaktionen von christlicher Seite aus erreicht, worüber ich mich sehr gefreut habe. Sie gingen direkt ins Herz. Ich wünsche mir aber, dass davon mehr Folgen im Alltag spürbar wären. Was auch gesagt werden muss: Seit dem 7. Oktober bekomme ich von vielen jüdischen wie nichtjüdischen Lesern unserer Zeitung widergespiegelt, dass sie unsere Berichterstattung über Israel als fairen Umgang wahrnehmen. Wir üben selbstverständlich auch Kritik an der israelischen Regierung und dem israelischen Militär, versuchen aber den weit verbreiteten Desinformationen bei dem Thema entgegenzutreten.