"Das stärkste aller Heilmittel ist Hoffnung"
Hildesheim. Der katholische Bischof Heiner Wilmer aus Hildesheim hat ein Buch über die jüdische Juristin Etty Hillesum (1914-1943) geschrieben, die in Auschwitz ermordet wurde.
Um sich ihrem Leben zu nähern, habe er sich mit Hillesums Tagebuch acht Tage zu Exerzitien zurückgezogen, sagte der Theologe im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst. In seinem Buch „Herzschlag“ tritt Wilmer in einen fiktiven literarischen Dialog mit der niederländischen Intellektuellen. Wilmer ist seit 2018 Bischof von Hildesheim. Das Buch erscheint am 21. Oktober. Hillesums Tagebuch wurde 1981 unter dem Titel „Das denkende Herz der Baracke“ veröffentlicht.
Bischof Wilmer, Sie haben einen ungewöhnlichen Weg gewählt, um Zugang zu Etty Hillesums Leben und Werk zu bekommen. Wie sah dieser aus und warum haben Sie ihn gewählt?
Heiner Wilmer: Ursprünglich wollte ich in eine belgische Abtei fahren, um mich für eine Woche zu einer inneren Einkehr zurückzuziehen. Im Prinzip mache ich das jedes Jahr. Vor vier Jahren war das wegen der Pandemie unmöglich. Ich habe mich dann kurzerhand für acht Tage in ein Zimmer im Bischofshaus eingeschlossen. Keine Arbeit, keine Mail, kein Telefon, kein Fernsehen, keine Gespräche, keine Gottesdienste, keine Bücher, keine Bibel - nur das Tagebuch von Etty Hillesum und etwas zu schreiben.
Nachmittags bin ich für eine Stunde raus, wie ein kleiner Ausbruch an der frischen Luft. Ich habe Etty gewählt, um von ihr zu lernen. Was mache ich, wenn das Leben bedrohlich wird? Wenn es eng wird? Wenn einem das Dach über dem Kopf zusammenbricht, der Himmel einzustürzen droht? Wie behalte ich in solchen Momenten den Kopf hoch? Wie kann ich aus der Hoffnung leben und aus der Anmut für das Schöne?
Was fasziniert Sie an der Geschichte von Etty Hillesum?
Wilmer: Etty Hillesum war eine vielschichtige Persönlichkeit, mit einem unfassbaren Innenleben und einer enormen Schaffenskraft. Das Jurastudium empfand sie als langweilig, spannend dagegen das Erlernen der russischen Sprache. Vernarrt war sie in Dostojewski, auch wenn sie ihn noch nicht zum Frühstück lesen konnte - es kamen dort einfach zu viele Tote vor. Dann doch lieber Rilke, in den sie verliebt war. Sie kämpfte mit ihren Eltern und mit Gott. Kann uns Gott helfen?, fragte sie und antwortete, eher müssten wir ihm helfen, damit er in den verwundeten Herzen der gequälten Menschen aufersteht.
In einer Welt voller Hass, Spaltung und Zerstörung ging es ihr um das Große und das Schöne. Immer wieder findet sie Trost in der Schönheit. Auch angesichts des Grauens. Ihr Tagebuch erzählt von der Kunst, wie ein Bambus im Sturm zu stehen - biegsam, aber unzerbrechlich.
Was wünschen Sie sich für die Leserinnen und Leser Ihres Buches? Was sollen sie aus der Lektüre mitnehmen?
Wilmer: Mitnehmen sollen die Leserinnen und Leser, wie alles zusammenhängt - das Große und das Schöne. Ich wünsche ihnen Sinn für die Überraschung des Lebens, den Umgang nicht nur mit Worten, sondern auch mit dem, was zwischen den Worten ist: die Lücke, die Stille, das Schweigen. Der Blick, der mehr sagt als Worte. Ich wünsche ihnen, sich abzuhärten, ohne zu verhärten, sich innerlich stark zu machen, ohne zu erstarren. Mit Schalk im Nacken. Ein inneres Feuer, das auch in der tiefsten Dunkelheit nicht erlöscht, mit einem Gespür für das Feine und Kleine und für das Große und Unaussprechliche und sein Geheimnis.
Den Lesern wünsche ich nicht Optimismus, das wäre zu schwach. Ich wünsche ihnen das stärkste aller Heilmittel: Hoffnung.