„Immer wenn ich mit der Welt hadere, denke ich an die Ankunftshalle im Flughafen Heathrow. Es scheint sich allgemein die Meinung zu verbreiten, dass wir in einer Welt von Hass und Habgier leben. Aber ich sehe das anders – ich glaube, dass die Liebe tatsächlich überall ist. Oft ist sie nicht besonders spektakulär oder eine Schlagzeile wert, aber sie ist immer da – zwischen Vätern und Söhnen, Müttern und Töchtern, Ehemännern und -frauen, Liebhabern und alten Kumpeln. Als die Flugzeuge in die Twin Towers einschlugen, waren – soweit ich weiß – keine der Handy-Gespräche der Menschen an Bord der Flugzeuge Botschaften voll Hass oder Rache. Es waren alles Liebesbotschaften.“
Mit dieser Vision von Liebe fängt ein britischer Kinofilm an. Passend heißt er „Tatsächlich Liebe“. Es ist in doppeltem Sinn eine Vision. Einmal weil sie etwas beschreibt, was doch tatsächlich sichtbar und zu sehen ist. Und dann weil sie mich hineinnimmt in ihre Sichtweise auf die Welt. Diese Vision ist eine Verlockung.
Zu der Stimme aus dem Off, die im Film diese Worte spricht, werden in Zeitlupe Menschen gezeigt, die sich in Heathrow in die Arme fallen. Es ist eigentlich die schönste Szene des Films – gleich am Anfang. Mich bewegt diese Szene so sehr, weil ein Kitzel in ihr ist. Das Visionäre. Das: Was wäre, wenn es wirklich so wäre? Stell Dir das mal vor! Dass unsere Welt, die immer wieder so grausam aussieht – gerade in diesen Tagen sind die Medien ja voll von solchen Bildern – in Wirklichkeit eine Welt voller Liebe wäre. Dass das, was unsere Welt bewegt und ausmacht, „tatsächlich Liebe“ ist.
Der Predigttext für heute steht im Buch des Propheten Jesaja. Höchstwahrscheinlich geht dieser Textabschnitt, diese Vision, tatsächlich auf den Propheten Jesaja zurück, der um 700 Jahre vor unserer Zeitrechnung in Jerusalem lebte und auftrat. Er hatte – wie viele Propheten vor ihm – soziale Missstände in der Stadt, im Volk im Namen Gottes angeprangert. Damit war er nicht bei allen gut angekommen. Aber man hatte ihn gehört.
Jetzt geht Jesaja durch die Straßen von Jerusalem, seiner Stadt. Überall sieht er Zeichen des Krieges. Abgebrannte Häuser. Ausgemergelte Menschen. Die Stadt steht unter Belagerung. Ein übergroßes Heer aus Assur steht vor den Toren Jerusalems. Wie lange würde es wohl noch dauern, bis König Sanherib mit seinen Truppen die Stadt einnehmen würde? Und danach? Jesaja mag es sich gar nicht ausmalen. Er lehnt sich an eine Hausmauer, fühlt den warmen Stein unter seinen Händen. Er kann über die Stadtmauer hinaus das Tal vor der Stadt sehen. Grün und fruchtbar ist es. Aber auch voller Menschen und Maschinen. Das Heerlager von Sanherib, des Königs von Assyrien. Alles wirkt ruhig. Die ganze Stadt, das ganze Land scheint den Atem anzuhalten. Alles wartet.
All die Missstände, die Jesaja so lange angeprangert hatte, waren auch im Zustand der Belagerung nicht besser geworden. Im Gegenteil. Der Kriegszustand brachte an manchen Menschen Seiten zum Vorschein, über die Jesaja erschreckte. Vielleicht auch diese Menschen selbst. Wie lange will Gott sich das noch anschauen?
„Gewalt und Gegenschläge, das sind Wege, die wir Menschen gehen“, schießt es Jesaja durch den Kopf. „Gott geht andere Wege.“
Jesajas Augen werden weit. Er sieht in die Ferne. Leise und wie von selbst, flüsternd, fast ungläubig, kommen die Worte über seine Lippen:
Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden. Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels...
Amen.
Jesaja 29,17–24