Wie nachhaltig ein Bibelwort wirken kann, habe ich vor Jahren auf dem Tempelberg in Jerusalem erlebt. Ein Freund und ich wollten die berühmten Moscheen besuchen. Im Eingangsbereich des weiten Geländes wurden wir angesprochen., erkennbar von einem Tourisstenführer: "Ich möchte Ihnen gerne alles hier zeigen und erklären." Mit unserem Dumontführer in der Hand lehnten wir ab. Aber Sadeh - so der Name auf seiner Kappe - folgte uns, ließ nicht nach: "Meine Herren, seit Stunden stehe ich hier, und niemand hat mich engagiert. Geben Sie mir eine Chance!"
Seltsam, Worte aus dem Gleichnis Jesu über die Arbeiter im Weinberg kamen mir in den Sinn. Ein Weinbergbesitzer trifft gegen Feierabend Leute auf dem Markt, die da herumstehen.: "Was steht Ihr hier den ganzen Tag müßig herum?" fragt er Sie sagen: "Niemand hat uns einen Job gegeben." Darauf er: "Geht (wie andere vor Euch) zum Arbeiten in den Weinberg!" Nach diesem Erinnern konnte ich nicht anders, wir haben uns dem Palästinenser angeschlossen.
In fließendem Deutsch - wie er erklärte, einst in Stuttgart Diplomingenieur geworden - hat Sadeh uns kundig in der Al-Aqsa-Moschee und im Felsendom deren Besonderheiten erklärt. Nebenbei haben wir uns über unterschiedliche Berichte von Ereignissen in Bibel und Koran ausgetauscht. So war es zu einem guten Miteinander gekommen. Wir dankten und verabschiedeten uns herzlich.
Wieder auf dem freien Gelände, sprachen zwei Männer uns freundlich an, luden uns zu einem Glas Tee ein. Überraschend nett fanden wir das. Da sah fast zufällig Sadeh hinter einem Ölbaum zu uns hin, besorgt den Kopf schüttelnd. Eine Warnung? Jedenfalls lehnten wir die Einladung dankend ab und gingen in die Altstadt.
Am nächsten Morgen, wieder in der Altstadt, trafen wir mitten unter den vielen Menschen dort überraschend Sadeh. Er strahlte uns an: "Allah sei Dank, Ihnen ist nichts passiert! Gestern Abend habe ich zu meiner Mutter gesagt: Hoffentlich ist den beiden Herren nichts Böses widerfahren! Denn die Männer hätten Sie in irgendeinem Winkel blitzschnell ausgeraubt." Wir waren erschrocken. Sadeh hatte uns vor einem großen Malheur bewahrt. Das haben wir mit ein paar Gläsern Limonade gefeiert.
Selbst nach Jahrzehnten kann ich dieses Erlebnis nicht vergessen, und damit auch nicht die nachhaltig heilvolle Wirkung der wenigen Worte aus dem Matthäus-Evangelium.
Amen.
Matthäusevangelium 20, 6 - 7