Märchen beginnen so: Es war einmal vor langer, langer Zeit, in einem Land, in dem die Wiesen noch grün waren und die Tomaten noch nach Tomaten schmeckten, zu einer Zeit, in der das Wünschen noch half…
So beginnen Märchen. Märchen, die doch immer gut ausgehen, zumindest für die Guten. Kindern lesen wir diese Märchen vor. Für Erwachsene – es sei denn, sie arbeiten in einer Kindertagesstätte oder beschäftigen sich psychologisch-literarisch mit diesen Geschichten – handeln diese Märchen eher von einem Parallel-Universum. Einer anderen Welt, eben der, in der das Wünschen noch half. Unsere Welt ist das nicht.
„Das ist ein frommer Wunsch“, sagt man. Und meint: Das geht nicht.
„Dein Wort in Gottes Ohr“, sagt man und meint: Daraus wird sowieso nichts.
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben“, sagt Jesus. Und er meint es so.
Der Sonntag heute heißt Rogate. Rogate ist ein lateinischer Imperativ. Eine Aufforderung, ein Appell. Wie viele lateinische Vokabeln kann auch diese eine ganze Menge bedeuten. Die wohl üblichste ist: um etwas bitten. Im religiösen oder kirchlichen Kontext wird daraus beten.
Wenn ihr den Vater bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben. Rogate ist die Aufforderung, Gott um etwas zu bitten. Aber worum ich Gott im Gebet nicht bitte, das muss er mir auch nicht geben. Mein Nicht-Bitten schützt mich vor Enttäuschungen. Vor Wut und dem bitteren Verdacht, Gott könne eben doch nichts ausrichten.
Sie ist wenig älter als ich. Ebenfalls chronisch krank, unbefristet, unheilbar für die Medizin. Sie erzählt: „Meine Gebete haben sich verändert. Als das anfing vor 23 Jahren, da habe ich Gott gebeten, dass ich das aushalte. Dass ich stark damit umgehe. Aber eben, dass ich gut damit umgehe. Je schlimmer die Krankheit wurde, desto mehr habe ich Gott angefleht, mich gesund zu machen. Gott, heile mich, bitte ich ihn, wenn ich nachts wachliege. Und was passiert? Ich werde nicht gesund. Aber mein Bitten macht mich stark, das alles auszuhalten.“
Ja, Beten hat Kraft. Weil Beten bedeutet, mit Gott, dem Allmächtigen, in Beziehung zu sein.
Wenn ihr den Vater bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben.
Jesus, der uns das sagt, hat selbst auch gebetet. Aber anders. Als ihm selbst Leiden und Sterben bevorstanden: Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie Du willst! Und das macht ihn für mich auch in Situationen, die ich als leidvoll erlebe, wieder so glaubwürdig. Gott hat selbst in Jesus Leiden kennengelernt und ausgehalten.
Der Name des Sonntags heute fordert uns inständig auf, unsere Wünsche Gott zu sagen. Rogate: betet. Bittet Gott!
Bei Hilde Domin klingt das viel zarter, aber kein bisschen weniger kraftvoll:
Nicht müde werden,
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.
Amen.
Johannesevangelium 16, 23b-24