Landesbischof Ralf Meister über Krieg und Gewalt im Nahen Osten

Eine männlich gelesene Person mit Halbglatze und Brille in Hemd und Jackett steht vor einer großen Bücherwand, die nur verschwommen erkennbar ist.
Bild: Jens Schulze

Hannover. Der evangelische Landesbischof Ralf Meister aus Hannover hat in Jerusalem einen Teil seines Studiums absolviert und hat Freunde in Israel, die er regelmäßig besucht. Zugleich pflegt er freundschaftliche Kontakte zu Christen im Libanon. Mit Sorge blickt er auf Terror, Krieg und Gewalt, die zurzeit den Nahen Osten erschüttern. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) plädiert er deshalb für eine Waffenruhe. Meister ist auch Leitender Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD).

Herr Meister, mit welchen Gefühlen haben Sie vor einiger Zeit die Nachrichten gehört, dass der Iran rund 200 Raketen auf Israel schießt?

Ralf Meister: Der eigentliche Schock geschah schon am 7. Oktober 2023, als Hamas-Terroristen Israel angegriffen und ein Pogrom angerichtet haben. Da sind alle Vorstellungen, die ich von dieser Region hatte, massiv eingebrochen. Ich kann nachempfinden, wenn Natan Sznaider, ein israelischer Soziologe, im Mai formulierte, dass er immer noch nicht am 8. Oktober angekommen sei. Die Schockerfahrung, dass der Staat Israel kein gesicherter Hort für jüdische Menschen mehr ist, ist ein Trauma, das so tief ins Bewusstsein Israels eingedrungen ist, wie wir es uns in Deutschland kaum vorstellen können.

Waren Sie überrascht von der Brutalität der Hamas?

Meister: Ja. Dieses ist das erste Pogrom an jüdischen Menschen nach der Schoa. Es ist singulär in seiner destruktiven, menschenverachtenden Gewalt. Wenige Tage später schrieb mir ein guter Freund aus Israel, der ein strikter Gegner der aktuellen Regierung ist, von seiner tiefen Solidarität mit seinem Land. Wie sollte es auch anders sein?

Was müsste dort aus Ihrer Sicht anders laufen als jetzt?

Meister: Das einzige, was jetzt sofort passieren muss, ist eine Waffenruhe. Ohne jetzt in irgendeiner Weise politisch für die eine oder die andere Seite zu votieren nach dem Motto: Das seien Verursacher, und das seien Verteidiger. Aus humanitären Gründen brauchen wir in Israel, in Gaza, im Libanon, im Westjordanland dringend eine Feuerpause, damit den Zivilisten in den Kriegsgebieten humanitäre Hilfe gewährt werden kann und Szenarien für einen längeren Waffenstillstand verhandelt werden können. Und natürlich, um die Geiseln freizulassen.

Was können Christen und was können Deutsche tun, um jetzt ihre Freunde, die sie in Israel haben, zu unterstützen?

Meister: Wir haben momentan eine hohe Zunahme von antisemitischen Straftaten. Alles muss getan werden, damit Antisemitismus sich nicht ausbreitet. Die Existenz des Staates Israels ist unantastbar. Forderungen, den Staat Israel oder Jüdinnen und Juden zu vernichten, müssen als antisemitische Straftaten geahndet werden. In unserem Umfeld müssen wir sehr aufmerksam sein für solche Äußerungen und Übergriffe und klar widersprechen. Und wir sollten für den Frieden beten, ohne Unterlass.

Gewiss darf und kann man die israelische Politik kritisieren. Das ist nicht antisemitisch. Wenn diese Kritik allerdings den Staat Israel dämonisiert oder delegitimiert, wird sie antisemitisch. Zurzeit hören wir Antisemitismus sehr stark aus palästinensischen Gemeinschaften, die sich solidarisieren mit den Menschen in der katastrophalen humanitären Situation in Gaza. Auch da gilt: Du kannst gegen israelische Politik sein, du kannst gegen diesen Krieg sein. Dafür gibt es viele Gründe. Aber die Forderung eines palästinensischen Staates auf der Fläche des Staates Israel ist antisemitisch.

Nicht nur Israel liegt Ihnen besonders am Herzen, sondern auch der Libanon, weil die hannoversche Landeskirche dort eine Partnerkirche hat mit Schulen, die von arabischen Kindern und Jugendlichen besucht werden. Was hören Sie denn von den Freunden dort über die Situation der Menschen angesichts der israelischen Angriffe?

Meister: Die evangelischen Schulen im Libanon werden zum Teil als Fluchtorte genutzt. Menschen fliehen dorthin für einen temporären Aufenthalt. Die Schulen versuchen momentan die enormen Fluchtbewegungen, die im Land entstanden sind, in irgendeiner Weise zu unterstützen. Viele Leute aus dem Süden des Landes, inzwischen auch aus den südlichen Teilen Beiruts und aus der Bekaa-Ebene sind auf der Flucht. Sie campieren auf den Straßen oder flüchten sogar mit ungewisser Perspektive zurück nach Syrien. Niemand weiß, wie sich die Lage entwickelt. Die Terrororganisation Hisbollah bestimmt die Geschicke des Landes.

Gibt es denn überhaupt noch Unterricht an den Schulen?

Meister: Ja, in einigen Schulen gibt es tatsächlich noch Unterricht. Die Lehrerinnen und Lehrer versuchen es zumindest, weil sie sagen: Es wäre eine große Katastrophe, wenn die junge Generation ihre Zukunft verliert. Inmitten dieser schwierigen Situation gibt es auch Zeichen der Hoffnung: So unterstützen Schülerinnen und Schüler Suppenküchen für Geflüchtete.

Sind Sie hin- und hergerissen zwischen Ihrer Solidarität mit Israel und der mit dem Libanon?

Meister: Nein. Ich bin zerrissen von einer Politik, die keine friedliche Lösung sucht. Aber meine Freunde sind meine Freunde. Und in welchem Kontext sie leben und welche Religion oder Konfession sie haben – jüdisch oder muslimisch oder christlich – spielt keine Rolle. Wenn mein jüdischer Freund Ariel und meine christliche Kollegin Najla aus dem Libanon mit mir am Tisch sitzen würden, dann wären sie sich schnell einig, dass sie beide nur eines wollen: dass der Krieg sofort endet.

Wie sehen Sie die Rolle des Islam in dieser Situation?

Meister: Ich würde differenzieren, denn das Angesicht des Islam wird deutlich verzerrt durch einen politischen Terrorismus in diesem Konflikt. Hamas und Hisbollah entspringen einem politischen Islam. Es sind beides Terrorgruppen, die ähnlich wie die Huthi-Rebellen im Jemen entweder direkt oder indirekt durch den Iran sowohl infrastrukturell wie militärisch aufgerüstet werden zur Destabilsierung des Nahen Ostens. Es ist nicht diese gewalttätige Verzerrung des Islam, die das Leben in der arabischen Welt insgesamt gestaltet. Alle radikal-religiösen Überzeugungen, die das Lebensrecht eines Menschen infrage stellen, sind gefährlich, seien sie nun christlich, hinduistisch, jüdisch oder islamisch.

Das heißt, das Problem sind aus Ihrer Sicht nicht Juden, Christen, Muslime, sondern das Problem sind Fanatiker?

Meister: Es sind religiöse Fanatiker. Denn sowohl in der Gründungsgeschichte der Hamas wie der Hisbollah wird die Vernichtung des jüdischen Staates reklamiert. Das hat erst einmal mit der Religion nichts zu tun, weil es im Koran keine Aufforderung zur Vernichtung des Judentums oder der Vertreibung aus dem Land gibt. Religiöse Fanatiker sitzen leider auch im Kabinett der israelischen Regierung.

Was gibt Ihnen Hoffnung auf Frieden?

Meister: Ich habe Mitte der 1980er-Jahre in Israel studiert. Auch damals konnte man mit dem Auto nicht durch den Libanon nach Israel fahren. Aber es war eine friedliche Zwischenzeit, an die sich große Hoffnungen für einen Frieden hefteten. Diese Bilder von einem Land mit arabischen und jüdischen Mitbürgern, in dem ich ein Jahr zu Hause war, lassen mich nicht los. Diese Region hat eine andere Zukunft verdient als die Gegenwart, in der sie jetzt lebt.

epd Niedersachsen-Bremen