Ein aufregender Tag

Mit der Einschulung beginnt für Kinder eine neue Lebensphase
Viele verschieden farbige Buntstifte.
Bild: epd-bild/Tim Wegner

Wie die sechsjährige Charlotte fiebern die meisten Kinder dem großen Tag entgegen. In den kommenden Tagen und Wochen werden die Erstklässler eingeschult. Damit sie gut ankommen, braucht es aber längere Zeit, sagen Experten.

Hannover/Osnabrück. Charlotte rennt schnell ins Nebenzimmer und kommt mit einem Wecker in der Hand zurück. Er ist mit einem Einhorn verziert und leuchtet auf Knopfdruck. Die Sechsjährige hat ihn sich von der Oma gewünscht. Mit der Einschulung beginnt am Sonnabend für rund 82.000 Erstklässler in Niedersachsen die Schule, das Land gehört zu den ersten, in denen die Sommerferien zu Ende gegangen sind. Charlotte ist es wichtig, rechtzeitig da zu sein, darum will sie sich den Wecker stellen. Sie sagt: „Das ist sehr aufregend.“

Am meisten freut sie sich darauf, Vater und Mutter und dem älteren Bruder ihren Klassenraum der Grundschule in Winsen an der Aller zu zeigen. Andere Verwandte wie die Oma oder Freunde dürfen da noch nicht dabei sein, sonst würde es zu voll, erzählt das Mädchen. Doch alle wollen den Tag gemeinsam feiern, der für die meisten Familien ein wichtiges Datum ist. So zählen zum Beispiel Schulanfangsgottesdienste zu den besonders gut besuchten kirchlichen Feiern, zu denen nicht nur Christen kommen.

Nicht nur für die Kinder, für die ganze Familie sei der Schulanfang eine große Umstellung, sagt Marion Ueberschar, die Leiterin des Grundschulzweiges der Mira Lobe Schule in Hannover. „Morgens müssen die Kinder früh aufstehen und pünktlich sein, in der Schule ist es nicht so flexibel wie im Kindergarten, das ist herausfordernd, zumindest wenn das erste Kind in die Schule kommt“, erläutert die Pädagogin.

An der kleinen freien Schule, die zum diakonischen Annastift gehört, werden gerade mal rund 20 Kinder eingeschult. Um ihnen das Ankommen zu erleichtern, hat sich das Team aus Grund- und Förderschullehrkräften und pädagogischen Mitarbeitern einiges einfallen lassen, sagt Ueberschar. Oft bereiteten die Lehrkräfte ein kleines Theaterstück vor, das mögliche Ängste in alltäglichen Situationen schon vorher ausräumen soll, wie sie erzählt. „Zum Beispiel die Frage, was mache ich, wenn ich mal auf Klo muss, oder an wen wende ich mich, wenn mich jemand ärgert?“

Am ersten regulären Schultag verteilen sich die Kinder dann auf vier Klassen, die im jahrgangsübergreifenden Unterricht jeweils auch von Schülerinnen und Schülern der Klasse 2 bis 4 besucht werden. Die Zweitklässler sind Paten, die am Anfang die Neuankömmlinge an die Hand nehmen. „Für die erste Woche ist das ganz wichtig, damit sie sich aufgehoben fühlen“, sagt Ueberschar. „Und die Großen sind stolz und übernehmen die Verantwortung gern.“ Das gilt an der inklusiven Schule auch für Kinder mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen.

„Nicht gleich aus der Ruhe bringen lassen“

Landesbischof Ralf Meister probiert mit Kindern das Fingeralphabet aus.
Bild: Jens Schulze
Landesbischof Ralf Meister probiert mit Kindern das Fingeralphabet aus. – Bild herunterladen

Schulanfangsgeschenk des Landesbischofs
Ein Geschenk von Landesbischof Ralf Meister für die Schulanfängerinnen und Schulanfänger ist bereits Tradition. Dieses Jahr bekommen mehr als 46.000 Kinder in der Landeskirche Hannovers ein Plakat mit einem Fingeralphabet. „Alle Kinder Hand in Hand“ lautet das Aktionsmotto, das den Gedanken der Inklusion aufgreift.

Auch der Osnabrücker Erziehungsforscher Dominik Krinninger betont: „Das soziale Ankommen, die Zeit, in der Kinder wirklich einen Anker in der Schule finden, kann einige Monate in Anspruch nehmen.“ Der Professor hat vor einigen Jahren zwölf Familien in dieser Phase begleitet. Die Kinder müssten neue Freundinnen und Freunde finden, eine Beziehung zu den Lehrkräften aufbauen und sich am neuen Ort zurechtfinden, erläutert er.

Den Eltern rät er in dieser Zeit zu Gelassenheit. „Wenn es in den ersten Wochen mal knirscht, die Kinder ihre Lehrer nicht verstanden haben oder mit den Hausaufgaben etwas schiefgeht, sollten sie sich nicht gleich aus der Ruhe bringen lassen.“ Zugleich sollten sie aber ihre Kinder aktiv begleiten, dazu gehöre es, Kontakt zu den Lehrkräften zu halten. Denn anders als in der Kita ergäben sich in der Schule viel seltener spontane Gespräch zwischen Tür und Angel.

Wenn Schulen und Kitas in der Vorbereitung der Einschulung zusammenarbeiten, profitierten alle davon, ist Krinninger überzeugt. Patenmodelle wie das der Mira Lobe Schule ließen sich noch ausweiten, indem Schulkinder Patinnen und Paten schon für Mädchen und Jungen in den Kitas werden. „Auch ältere Geschwister können den Weg ebnen.“

Wie die Mira Lobe bieten manche Schulen schon vor der Einschulung „Schnuppertage“ an. Auch Charlotte kennt ihre Schule schon, manches Mal war sie dabei, wenn die Eltern den älteren Bruder hingebracht haben. Und sie kennt zumindest schon eine ihrer künftigen Mitschülerinnen. „Meine allerbeste Freundin Leonie“, freut sie sich.

Krinninger hat bei seinen Forschungen einzelne Kinder erlebt, die nicht gut in der Schule angekommen sind. „Es ist eine pädagogische Herausforderung, wenn sich Kinder nicht so leicht an neue Strukturen anpassen können“, sagt er. Doch insgesamt gilt nach seiner Erfahrung, was auch Charlotte anzumerken ist. „Die meisten fiebern auf die Schule zu.“ Die Sechsjährige zumindest hat schon ein klares Ziel vor Augen: „Ich will endlich abends die Gute-Nacht-Geschichte vorlesen!“

Karen Miether (epd)