Heinrich: „Mich haben die Beschreibungen von Gewalt beschäftigt“
Hannover. Gut sechs Wochen nach der Veröffentlichung der ForuM-Studie zu Missbrauch hat sich die evangelische Kirche grob sortiert: Die Anerkennungsleistungen für Betroffene sexualisierter Gewalt sollen in allen 20 Landeskirchen vereinheitlicht werden, und es stehen Änderungen des Disziplinarrechts für Pfarrer an. Darüber soll die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im November abstimmen, kündigt Synodenpräses Anna-Nicole Heinrich im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) an.
Vor einem Monat wurde die Studie über Ausmaß und Risiken sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche vorgestellt. Was ist seitdem anders?
Anna-Nicole Heinrich: Ich habe in den vergangenen Wochen ein größeres Bewusstsein für das Thema wahrgenommen – und zwar nicht nur bei Kirchenleitenden, sondern auch in den Gemeinden. Die Haltung „Sexualisierte Gewalt gibt es bei uns nicht“ sollte endgültig der Vergangenheit angehören. Sexualisierte Gewalt ist ein Thema in unserer Kirche, mit dem wir uns beschäftigen müssen. Vor allem müssen wir uns mit den strukturellen und kulturellen Faktoren beschäftigen, die am Ende auf allen Ebenen, bis in jede Gemeinde hinein, durchbuchstabiert werden müssen und Veränderungen notwendig machen.
War das Ergebnis für Sie persönlich überraschend?
Heinrich: Überraschung ist nach einer so ausführlichen Beschäftigung mit dem Thema in den vergangenen Jahren für mich keine Haltung, mit der ich die Studie lese und diskutiere. Was ich aus Einzelgesprächen bei Gemeindeveranstaltungen mitgenommen habe, war vor allem ein Erschrecken darüber, dass in Gemeinden oft eine Kultur herrscht, in der Betroffene erfahrenes Leid nicht aussprechen können, weil sie Angst vor sozialer Ausgrenzung haben müssen. Die Studie unterstreicht zudem: Wir müssen die Betroffenenperspektive stärken. Mich haben die detaillierten Beschreibungen von Gewalt beschäftigt, nicht nur das Leid durch sexualisierte Gewalt selbst, sondern auch das Leid durch unangemessene kirchliche Verfahrensweisen, wenn Betroffene sich dazu durchgerungen haben, Taten offen zu benennen.
Haben Sie angesichts der Studienergebnisse darüber nachgedacht, ob und wie Sie ihr ehrenamtliches Engagement in der EKD fortsetzen?
Heinrich: Diese Frage stellt sich so für mich nicht. Ich bin Verantwortungsträgerin dieser Kirche, und ich kann im Moment an entscheidender Stelle mit dazu beitragen, dass wir bei dem Thema weiter vorankommen. Ich möchte in den nächsten Wochen und Monaten meine Energie intensiv dafür einsetzen, alles dafür zu tun, dass wir bis zur Synode im November konkrete Maßnahmen vorlegen.
Was sind diese konkreten Maßnahmen?
Heinrich: Zunächst haben sich Vertreterinnen und Vertreter von Betroffenen und Beauftragte aus Kirche und Diakonie im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt der EKD Mitte Februar mit den 46 Empfehlungen der Forschenden auseinandergesetzt. Wir haben einen klaren Zeitplan für die Entwicklung von geeigneten Maßnahmen erarbeitet, an denen wir das ganze Jahr über intensiv arbeiten und die im November der EKD-Synode zur Abstimmung vorgelegt werden. Als nächstes beraten im März die Kirchenkonferenz und der Rat der EKD gemeinsam mit Mitgliedern des Beteiligungsforums. Konkret arbeiten Arbeitsgruppen des Beteiligungsforums zurzeit etwa schon an einer Reform des kirchlichen Disziplinarrechts und an der Vereinheitlichung der Anerkennungsverfahren. Die Synode möchte ein einheitliches Leistungsmodell in allen 20 Landeskirchen. Betroffenenorientierung und Unabhängigkeit sind dabei wichtige Bedingungen.
Welche Änderungen soll es beim Disziplinarrecht geben?
Heinrich: Es geht dabei um Verfahrensregeln, um Akteneinsicht und Kommunikation. Die Änderungen sollen betroffene Personen – soweit es rechtlich in Disziplinarverfahren möglich ist – vom Objekt zum Subjekt machen. Die Gesetzesänderung soll in den nächsten Wochen ins landeskirchliche Stellungnahmeverfahren gehen.
Wann ist ein realistischer Zeitpunkt dafür, dass die Anerkennungsverfahren tatsächlich in allen Landeskirchen einheitlich sein werden?
Heinrich: Ich hoffe sehr, dass es schnell geht. Wenn Einheitlichkeit und Standardisierung ein Garant dafür sind, dass Verfahren besser laufen, dann müssen wir uns auch auf diese Einheitlichkeit und auf diese Standards einlassen. In der gemeinsamen Erklärung nach der Veröffentlichung der ForuM-Studie haben sich der Rat der EKD, die 20 Landeskirchen und die Diakonie Deutschland noch einmal ausdrücklich dazu bekannt, bei Prävention und Transparenz, Anerkennungsverfahren und Aufarbeitung Einheitlichkeit herzustellen. Eine Konkurrenz der Landeskirchen darum, wer das bessere Konzept hat, darf es nicht geben.
Ist die nächste Synode denn tatsächlich erst im November?
Heinrich: Die nächste Synode ist vom 10. bis 13. November 2024 in Würzburg. Eine Sondersynode hielte ich nach wie vor nicht für zielführend. Es ist verabredet, dass die Beratungen im Beteiligungsforum Vorrang haben. Die Arbeitsgruppen und rechtlichen Stellungnahmeverfahren brauchen jetzt die Zeit bis November. Zur konkreten Beschlussfassung kann in den nächsten Wochen damit noch nichts vorliegen.
Wäre eine Aussprache der Synodalen zu der Studie nicht jetzt sinnvoll?
Heinrich: Dafür gibt es geeignete Formate und die nutzen wir auch. Mitte März wird es eine Onlineveranstaltung für die Synodalen geben, bei der sich die Synodalen mit den Sprecherinnen und Sprechern des Beteiligungsforums und weiteren Mitgliedern des Gremiums austauschen können. Das geschieht aber nicht in Form einer Synodentagung. Die besondere Aufgabe von Synodentagungen besteht darin, Beschlüsse zu beraten und zu fassen. Das wird bei der Tagung im November möglich sein, wenn die konkreten Maßnahmen, die das Beteiligungsforum vorschlägt, vorliegen.
Wird der Ablauf der Synode im November sich durch die inhaltlichen Beratungen zum Thema Missbrauch verändern?
Heinrich: Wir verlängern die in Würzburg stattfindende Synodentagung um einen halben Tag, um uns Zeit zu nehmen über die Maßnahmen, die die 46 Empfehlungen der ForuM-Studie aufnehmen, zu beraten. Außerdem wird das Beteiligungsforum während der Synode tagen, um zu Änderungsvorschlägen an den Gesetzesvorlagen und Beschlüssen Stellung beziehen zu können, die dann wieder in die Synode zurückgehen.
Die Studie macht eine Reihe von Risikofaktoren für Missbrauch in der evangelischen Kirche aus, unter anderem das föderale Gefüge, das mit diffusen Verantwortlichkeiten einhergeht. Muss sich das ändern?
Heinrich: Föderalismus ist per se nichts Schlechtes. Was die Forschenden kritisch angemerkt haben, ist die Uneinheitlichkeit und mangelnde Koordination innerhalb föderaler Struktur. Es kann nicht darum gehen, alles zu zentralisieren, sondern darum, über verschiedene Schritte und konkrete Maßnahmen Einheitlichkeit und Standardisierung herbeizuführen. Und das lässt sich auch in einem föderal organisierten System leisten, wenn es den Willen dazu gibt. Wir dürfen nicht der Illusion hinterherlaufen, dass wir durch einen Strukturwandel einen Kulturwandel erzwingen können.