Winsen/Luhe. Abraham Simon und Marion Philipp beugen sich zueinander über den Tisch im Foyer des evangelischen Gemeindehauses in Winsen an der Luhe bei Hamburg. Sie sind intensiv im Gespräch und erinnern sich an das Jahr 2013, als der heute 35-Jährige noch ganz neu in der Stadt war. Geflohen aus Eritrea, lebte er mit neun Landsmännern in einer kleinen Unterkunft. „Das war schön am Anfang“, sagt er in flüssigem Deutsch. „Wir waren neugierig, alles war neu. Wir mussten alles lernen.“
Sieben von seinen damaligen Mitbewohnern seien noch in der Gegend, erzählt er. „Ich glaub’, sie sind auch hier“, fügt er mit ausladender Handbewegung an. Im großen Saal sitzen Menschen bei Kaffee, Kuchen oder vor dampfenden Tellern mit veganem Geschnetzelten und Rotkohl. Im Garten brandet beim Kicker-Spielen gerade Tor-Jubel auf. An diesem Tag sind rund 100 Menschen da, es herrscht Kommen und Gehen. Immer sonnabends wird das Gemeindehaus zum „Internationalen Café“. Vor zehn Jahren hat die Kirche es ins Leben gerufen.
Nachdem es in der Region Proteste gegen eine geplante Flüchtlingsunterkunft gegeben hatte, wollte sie ein Zeichen der Gastfreundschaft dagegen setzen – mit Erfolg. „Es ist uns gelungen, die Deutungshoheit der Stammtische zu bekommen“, zieht Gemeindepastor Markus Kalmbach Bilanz. Das gelte bis heute, auch wenn die Probleme nicht geringer würden. „Das Drückendste ist, dass es hier im Speckgürtel von Hamburg keine bezahlbaren Wohnungen gibt.“
Wie in Winsen gründeten sich in der Vergangenheit in vielen Orten in Deutschland Initiativen für Begegnung und Unterstützung im Alltag, vor allem seit 2015. Viele davon hätten sich aber mit dem Rückgang der Flüchtlingszahlen in den Jahren 2017 und 2018 wieder aufgelöst, sagt der Osnabrücker Migrationsforscher Jochen Oltmer.
Er sieht aktuell sogar einen weiteren Rückgang des Engagements, obwohl dieses weiter nötig sei. „Für die Begleitung, Beratung, für den Kontakt mit Behörden, für das Ankommen im Alltag der bundesdeutschen Gesellschaft ganz allgemein sind die Initiativen weiterhin ausgesprochen wichtig – und werden es bleiben.“
Doch verspreche der Einsatz zunehmend weniger soziale Anerkennung, erläutert der Historiker am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück. Auch sprächen manche Aktive von einem „Gefühl der Überforderung“, insbesondere durch nervraubende Kontakte mit Behörden.
In Winsen hat sich Jürgen Baumgarten eine Tasse Kaffee eingeschenkt. Der 84-Jährige gehört zu den Gründern des Cafés. Er ist in den vergangenen zehn Jahren Experte dafür geworden, den Geflüchteten Arbeit und Ausbildung zu ermöglichen. „Manchmal war das mühsam und frustrierend“, sagt er. „Die Behörden hatten erst noch nicht begriffen, wie es gehen kann.“ Vieles sei besser geworden. Doch die aktuellen Pläne der Bundesregierung sind aus seiner Sicht „ein Schuss in den Ofen“. Bevor Flüchtlinge arbeiten könnten, müssten sie zumindest in Grundzügen Deutsch beherrschen, ist seine Erfahrung. Aber Sprachkurse gebe es bei weitem nicht genug.
Im „Internationalen Café“ büffelt an diesem Tag eine ganze Klasse. In ruhige Ecken haben sich weitere ehrenamtliche Lernpatinnen und -paten zurückgezogen, so wie Walter Langhans. Mit einer jungen Mutter aus Eritrea geht er im Lehrbuch gerade das Kapitel „Arztbesuch“ durch. „Ich brauche viel Hilfe“, sagt die Frau mit leiser Stimme.
Inzwischen gehört zum Café auch ein Spielzimmer. Es sei ein Treffpunkt für alle geworden, sagt Pastor Kalmbach. Auch die Senioren der Gemeinde haben ihren angestammten Tisch. Bärbel Klevenhaus füllt im Foyer aus Suppenkesseln Chili und das Geschnetzelte auf die Teller. Sie kommt von den „Winsener Lichtblicken“, die sich gegründet haben, als im vergangenen Jahr Kirchen und andere Initiativen angesichts steigender Energiepreise mit beheizten Räumen und warmen Mahlzeiten helfen wollten.
Bis zu 150 Gäste bewirtet Klevenhaus jeden Sonnabend. Die „Foodsharerin“ bemüht sich darum, dafür möglichst viele gespendete Lebensmittel zu verwenden, die Großbetriebe sonst weggeworfen hätten. Sie kocht ausschließlich vegan. „Es war spannend, herauszufinden, was allen schmeckt, wir haben uns angenähert“, sagt sie und lacht – immerhin kommen Menschen aus bis zu 30 Nationen in das Café. „Inzwischen sind einige auch nur wegen des Essens da“, vermutet Klevenhaus. Doch das falle nicht auf, niemand müsse sich für seine Not schämen. „Genauso haben wir es uns gewünscht.“
Auch ein großes Kuchenbuffet ist im Gemeindehaus aufgebaut – Ware vom Vortag, gespendet von einem örtlichen Bäcker, dem Chef von Abraham Simon. „Die Berliner habe ich gebacken“, sagt der 35-Jährige, der einst aus Eritrea kam. „Ich bin Bäcker.“ Und Marion Philipp, die als Ehrenamtliche seinen Weg über die Jahre verfolgt hat, ergänzt mit Betonung: „Gelernter Bäcker!“ Es sei nicht immer leicht gewesen, räumt der Mann aus Eritrea ein: die Sprache lernen, eine Arbeitserlaubnis bekommen. Eine Kfz-Lehre musste er abbrechen.
Inzwischen hat er eine Aufenthaltsgenehmigung, ist verheiratet und Vater einer Tochter – auch seine Frau gehörte in der Anfangszeit zu den Engagierten im Café. Marion Philipp sagt lachend: „Von solchen Paaren haben wir inzwischen ein paar, paar kleingeschrieben, also mehr als zwei.“