„Kinder aufrichten statt unterrichten“
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Der Einstieg ist drastisch: Naturkatastrophen, Umweltzerstörung, Artensterben, Weltuntergang. „Und was machen wir? Nichts.“ Es ist still im Loccumer Hörsaal A, als die Bildungsvisionärin Margret Rasfeld einen Film zeigt und damit den Status Quo der Welt und dann der Schulwelt beschreibt. Wer den Klimawandel und andere Katastrophen aufhalten will, muss auch das Schulsystem ändern, davon ist die ehemalige Schulleiterin überzeugt.
Auf Einladung des Religionspädagogischen Instituts Loccum (RPI) spricht sie vor Schulleiterinnen und -leitern an niedersächsischen Grundschulen – und nimmt diese von mancher Kritik aus. Hier sei man pädagogisch längst weiter als etwa an Gymnasien. Doch viele Schulen arbeiteten noch nach veralteten Prinzipien. Sie förderten Selektion und Konkurrenz, ließen wenig Freiraum für Kreativität und produzierten „fremdbestimmte, dauerbewertete Menschen mit Fehlerangst“. Dem hält sie das Credo des Reformpädagogen Otto Herz entgegen: „Kinder aufrichten statt unterrichten ist die Aufgabe von Schule“.
Laut einer Jugendstudie des Unternehmens Vodafone vom April 2022 machen sich 86 Prozent der jungen Menschen in Deutschland Sorgen um ihre Zukunft. Während der Pandemie ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit seelischen Belastungen und psychosomatischen Beschwerden sprunghaft angestiegen. „Wir treiben es so weit, dass wir Neunjährige im Burnout haben – und machen weiter wie bisher“, sagt Margret Rasfeld, die bereits 1992 in einem Fachartikel vor dem „Risikofaktor Schule“ warnte. Der verstärkte Einsatz von Schulpsychologen und Geldern für Mental-Health-Programme seien zwar gut, „aber nicht die Lösung, wenn wir am System festhalten“.
Rasfeld wirbt für eine „Schule für alle“, in der jahrgangsübergreifend gelernt wird. Noten sollten durch individuelles Feedback ersetzt werden. Und warum nicht Team-Arbeiten schreiben statt Klassenarbeiten? „In der Wirtschaft wird auch im Team gearbeitet“, sagt sie. „Wir brauchen einen Kulturwandel.“ Der Hemmschuh seien allerdings oft die Erwachsenen. Eltern, die das vermeintlich Beste für ihr Kind wollen. Lehrkräfte, die unter dem Druck stehen, trotz Unterrichtsausfalls und Distanzlernen Noten geben zu müssen. „Kleinere Klassen, saubere Toiletten, ein schöner Schulhof – das sind die Wünsche der Lehrer, darüber hinaus geht es oft nicht.“
Dabei gibt es längst einen anderen Plan. Sogar einen Weltaktionsplan. Schon 1996 hat die Unesco vier gleichwertige Säulen für nachhaltige Bildung formuliert: Lernen, Wissen zu erwerben. Lernen, zusammen zu leben. Lernen, zu handeln. Lernen, zu sein. Wissen genau so wichtig wie Sein? Das erfordert gewiss ein Umdenken. Auf Grundlage der Unesco-Beschlüsse habe Deutschland als einziges Land einen „Nationalen Aktionsplan“ entwickelt. Das Problem: „Die meisten haben davon noch nie gehört“, sagt Rasfeld. Und es gebe weitere gute Initiativen, etwa das „Modellprojekt Zukunftsschule“, das das Land im Juni 2021 auf den Weg gebracht hat. „Ihr habt richtig gute Bedingungen in Niedersachsen“.
An mehreren Stationen hat Margret Rasfeld vorgemacht, wie die „Schule im Aufbruch“ aussehen könnte. So baute sie 2007 auf Bitten einer Elterninitiative die neue Evangelische Schule Berlin Zentrum (ESBZ) auf und zog damit internationale Aufmerksamkeit auf sich. Wichtig waren für sie mehrere „Musterbrüche“: eine größtmögliche Heterogenität der Klassen über drei Jahrgänge, monatliche Schulversammlungen, in denen öffentliches Loben zum Programm gehört und Projektideen, die aufs Leben vorbereiten.
So gibt es in der Mittelstufe das Fach „Herausforderung“: Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 7 bis 10 werden drei Wochen auf die Reise geschickt und müssen in dieser Zeit mit 150 Euro klarkommen. Unterwegs sind die Jugendlichen in kleinen Gruppen, meist mit dem Fahrrad, einem Kanu oder zu Fuß. Sie unterstützen soziale oder ökologische Projekte, arbeiten auf dem Bauernhof, sind in Klöstern, ernten Weintrauben und helfen, wo es möglich ist. Von den 150 Euro müssen Verpflegung, Fahrtkosten und bei Bedarf Übernachtungen finanziert werden. Selten gibt auch mal jemand auf, für die meisten aber ist diese Zeit positiv prägend.
Ein weiteres Projekt hat Margret Rasfeld entwickelt, das an vielen Schulen immer mehr an Fahrt aufnimmt: der „Frei Day“. Kinder und Jugendliche erhalten am Freitag oder einem anderen Tag Freiraum, um eigene Projekte auf die Beine zu stellen. Sie werden ermutigt, selbst Lösungen für eine nachhaltige und gerechte Lebensweise zu entwickeln. Das geht weiter als von Lehrkräften initiierte AGs, Schülerfirmen oder Projekttage. Selbstwirksamkeit ist das Zauberwort – dass dies inzwischen an vielen Orten gelingt, macht Margret Rasfeld Mut. Und wenn es gut läuft, nicht nur ihr.
Lothar Veit / EMA