Startseite Archiv Tagesthema vom 21. November 2022

#EineTrachtLiebe - per social media zur gewaltfreien Erziehung

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Unter dem Hashtag #EineTrachtLiebe hat das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung eine digitale Kampagne zum Thema „Gewaltfreie Erziehung" gestartet. Eine Themen-Website und unterschiedliche Postings auf dem Kampagnenkanal bei Instagram sollen Erziehende sensibilisieren und unterstützen, bei Stress und Überforderung Alternativen zu Gewalt in der Erziehung zu finden. Für Lena Sonnenburg, Dozentin für den Bereich Grundschule am Religionspädagogischen Institut in Loccum, ist die Kampagne ein wichtiges Signal. Ohne den Ausbau ergänzender Hilfsangebote vor Ort sei ein Wandel in der Erziehung aber schwierig.

Bild der Kampagne #EineTrachtLiebe

Dabei können nur Zahlen erfasst werden, die durch öffentliche Behörden wie Gerichte, Staatsanwaltschaft und die Polizei oder Schulen gemeldet werden. Hinweise von Nachbarn, Verwandten oder den Minderjährigen selbst nahmen seit Beginn der Pandemie deutlich ab und lassen die Dunkelziffer der Gewaltanwendungen oder gar Kindeswohlgefährdungen so wahrscheinlich noch alarmierender ausfallen.

Für Lena Sonnenburg, Dozentin für den Bereich Grundschule am Religionspädagogischen Institut Loccum, waren sowohl Gewalt als auch die Gefährdung des Kindeswohls viele Jahre trauriger Alltag. Sie hat an sogenannten Brennpunktschulen in Hannover unterrichtet. Während der Pandemie, so erzählten ihr viele Kolleg*innen, haben diese Fälle sogar noch zugenommen: „Manche Kinder kamen im Schlafanzug und mit ungeputzten Zähnen in die Schule. Andere hatten keine ausreichende Winterkleidung und Schulverpflegung dabei oder waren sichtbar zu dünn und verwahrlost.“ 

Auch Liebesentzug, Schweigen und Ignorieren sind Gewalt
Bei einigen Kindern wurden im Sportunterricht Hämatome sichtbar. „Manchmal erzählten Kinder sogar ganz offen davon, dass sie mit einem Gürtel geschlagen worden waren oder kein Abendessen erhielten", berichtet Lena Sonnenburg“. 
Dass solche Erfahrungen in sozialen Brennpunkten besonders ausgeprägt seien, sei allerdings ein Trugschluss. Sie ereignen sich in allen sozialen Schichten und sind nur nicht immer auf den ersten Blick erkennbar: „Psychische Gewalt zeigt sich zum Beispiel in einem Liebesentzug, beharrlichem Schweigen und tagelangem Ignorieren. Aber auch Erpressungsversuche sind eine Form von Gewalt“, stellt die Dozentin klar. „Wenn man einem Kind beispielsweise sagt: ‚Du darfst erst draußen spielen, wenn Du aufgegessen hast‘, kann das zu einem verletzenden Zwang bis hin zu einer Körperverletzung werden. Situationen wie diese lösen Ängste und immense Stressgefühle aus, die sich auch jahrelang wiederholen und festigen können.“ Manchmal offenbaren sich die Folgen psychischer Gewalt in der Verschlossenheit oder Abkapselung eines Kindes. Manchmal bleiben sie aber auch unentdeckt.

Lena Sonnenburg ist Dozentin für den Bereich Grundschule am Religionspädagogischen Institut Loccum. Bild: RPI

Ob die digitale Kampagne #einetrachtliebe der Gewalt in der Erziehung oder gar einer Kindeswohlgefährdung entgegenwirken und Eltern erreichen kann, ist für Lena Sonnenburg allerdings noch fraglich. „Ich begrüße es sehr, dass das Thema stark in die Öffentlichkeit kommt“, sagt sie. „Es ist auch sicherlich eine Hilfe, Eltern dort anzusprechen und zu sensibilisieren, wo sie oft unterwegs sind – in den Sozialen Medien. Es sensibilisiert auch die Gesellschaft, mehr hinzuschauen, was in der eigenen Umgebung passiert. In der Nachbarschaft, im Freundeskreis oder als Familienmitglied.“ 

Ergänzende Betreuungs- und Beratungsangebote vor Ort sind für sie aber unerlässlich und müssten angesichts der alarmierenden Fälle von Gewaltanwendungen und Kindeswohlgefährdungen umso stärker ausgebaut werden. „Viele Eltern standen gerade in der Pandemiezeit unter erheblichem Stress“, erklärt Lena Sonnenburg. „Herausforderungen wie das Homeschooling und die ganztägige Betreuung zuhause, beengte Wohnungen und die Einschränkungen des Lockdowns verschärften die Lage enorm.“ Doch auch wenn sich die Pandemiesituation inzwischen entschärft hat und die Schulen ihre Türen wieder für Präsenzunterricht geöffnet haben, sei der Bedarf an Beratung und Hilfen groß. „Anstelle der Pandemie treten jetzt ganz andere Sorgen in den Vordergrund“, sagt Sonnenburg. „Die gestiegenen Lebenshaltungskosten, der Krieg und die Energiekrise sorgen in manchen Familien weiterhin für eine enorme Anspannung und haben den Stress nur verlagert.“ 

Erste Hilfe: Elterngespräche
Für die Dozentin hilft da nur eines: „Mit den Eltern im Gespräch zu bleiben und ihnen konkrete Lösungen aufzuzeigen.“ Und Zeit einzuplanen, denn schnelle Erfolge sind nicht immer zu erwarten. „Eine Verhaltensänderung ist ein langwieriger Prozess“, weiß Sonnenburg. „Viele Eltern reagieren bei ersten Gesprächen oft erst einmal aggressiv und sagen dann z.B. ´Du hast mir gar nichts zu sagen. Zuhause bin ich der Chef, und es wird so gemacht, wie ich es für richtig halte.‘ Eigene Gewalterfahrungen aus der eigenen Kindheit werden dabei schnell idealisiert und als entlastende Argumentation herangezogen: „Da heißt es dann: ‚Ich wurde auch so erzogen. Das war gut und richtig. Also erziehe ich mein Kind jetzt genauso.‘ Man darf sich davon aber nicht abschrecken lassen“, rät Sonnenburg, „denn je häufiger man die Gespräche wiederholt und sinnvolle Alternativen aufzeigt, desto besser können Eltern ihre Sicht überdenken und eine Verhaltensänderung erreicht werden.“

Lilian Gutowski/EMA
Bilder der Kampagne #EineTrachtLiebe

3 Tipps zur Deeskalation

Für Eltern hat Lena Sonnenburg wichtige Tipps, die deeskalierend dabei helfen können, neue Wege für eine gewaltfreie Erziehung zu finden: 

- Erstens: Durchatmen, langsam bis Zehn zählen und erst dann reagieren. Handlungen aus dem Affekt heraus können so bereits verhindert werden.

- Zweitens: Hinterfragen, welche Bedürfnisse ein Kind hat. Wenn ein Kind zum Beispiel schreit oder auf ein Elternteil losgeht, stecken dahinter Gründe. Kinder handeln nicht aus Boshaftigkeit. Ihr Verhalten ist meist eine Reaktion auf vorangegangene Verhaltensweisen, Ängste oder Stress.

- Drittens: Sich in die Situation des Kindes hineinversetzen. Wie würde man sich selbst fühlen, wenn man wieder sechs Jahre alt ist, geschlagen wird oder tagelang ignoriert wird? Dieser Prozess kann sehr schmerzhaft sein, da gewalttätige Eltern sich oft auch mit Erfahrungen aus ihrer eigenen Kindheit und Ängsten auseinandersetzen müssen. Was Eltern in diesem Moment fühlen, fühlt auch das eigene Kind bei der Anwendung von Gewalt und Vernachlässigung.