Nachhaltigkeit, die Schule macht
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„Deutschland – eine Reise wert?“ So lautet eines der Themen, das an der Integrierten Gesamtschule (IGS) Oyten unterrichtet wird. Doch in welchem Fach? Erdkunde? Nein, in Oyten denkt man weiter: themenorientiert, fächerübergreifend und projektbezogen. Deshalb hat das IGS-Team das neue Fach „Themenorientierter Unterricht“ erfunden, in dem die klassischen Fächer aufgehen.
Natürlich liegt es nahe, sich dem Reiseland Deutschland geographisch und geschichtlich anzunähern. Doch es gibt noch weitaus mehr Aspekte. Wie wäre es, die Texte in Reiseführern mit den Mitteln des Deutschunterrichts zu analysieren? Oder die Schülerinnen und Schüler entwerfen einen englischsprachigen Begrüßungsflyer. In Kunst designen sie Werbeprodukte wie T-Shirts. Aus naturwissenschaftlicher Sicht ist es interessant, Wasser und Land unter dem Erholungsaspekt zu untersuchen. In Religion geht es um die Verantwortung für die Schöpfung. Und in Mathe? Berechnen die Mädchen und Jungen die Reisekosten zu beliebten Urlaubsorten.
Die IGS Oyten ist erst zehn Jahre alt. „Wir wollten Schule neu denken“, sagt Dieter Schmidt, Didaktischer Leiter, der die Neugründung in Trägerschaft der Gemeinde Oyten von Beginn an mit konzipiert und aufgebaut hat. Im Mittelpunkt steht die „Agenda 2030“ der Vereinten Nationen, in denen 17 Nachhaltigkeitsziele formuliert sind. Darin geht es beispielsweise um den Kampf gegen Armut, Hunger und den Klimawandel, um saubere Meere, menschenwürdige Arbeit für alle oder den Zugang zu bezahlbarer, nachhaltiger und moderner Energie. Alles Themen, die immer dringlicher werden.
Die Planungsgruppe, die 2011 mit der Konzeption begann, hatte sich die Frage gestellt, was „zukunftsrelevante Bildung“ ist, sagt Schmidt, der selbst Physik, Chemie und Kunst studiert hat. So kam man auf die Idee, ein Drittel der Unterrichtszeit themenorientiert zu arbeiten. Die Themen heißen zum Beispiel „Wie sieht meine Zukunft aus?“, „Wo komme ich her? Wo gehe ich hin?“, „Geld regiert die Welt – machen wir mit?“ oder „Verändert Produktion die Welt?“. Bei Letzterem versuchten die Schülerinnen und Schüler, selbst Schokolade herzustellen. Sie lernten etwas über den Anbau und die Ernte von Kakao sowie über faire oder unfaire Bezahlung in den Herkunftsländern. Die Ergebnisse präsentierten sie Eltern, Familie und der Schulgemeinschaft. Auf ähnliche Weise beschäftigten sie sich mit der Herstellung von Mobiltelefonen und Jeans. Das Präsentationsziel lautete: Gründe ein zukunftsfähiges Start-up-Unternehmen.
Seit 2013 ist die IGS Oyten „Umweltschule in Europa / Internationale Nachhaltigkeitsschule“. Im Oktober erhielt sie die Auszeichnung bereits zum vierten Mal. Es ist ein Zertifikat, das keiner Schule in den Schoß fällt – sie muss schon liefern. In Oyten haben die Jugendlichen kurzerhand einen „Schulwald gegen Klimawandel“ gepflanzt: 6.500 Bäume und 2.000 Sträucher in zwei Tagen. Sie legten eine Wildblumenwiese auf dem Schulgelände an. Aktuell sind Schülerinnen und Schüler dabei, für die Flachdächer der Schule Solaranlagen zu planen. „Für jedes unserer Themen suchen wir außerschulische Lernorte auf“, erklärt Dieter Schmidt. Oder man verabredet sich im Rathaus mit Politikerinnen und Politikern zu einer Podiumsdiskussion, in der man drängende Fragen bespricht. Für Oyten, aber auch für die Welt.
Eines der Ziele der Schule ist die Teilnahme am „Frei Day“-Modell: freie Unterrichtszeit am Freitag, die die Schülerinnen und Schüler für eigene nachhaltige Projekte nutzen können. Mitinitiator ist der prominente Hirnforscher Gerald Hüther. Und auch sonst schauen die Oytener über den Tellerrand: Es gibt einen Schüleraustausch mit einem Gymnasium in der Tschechischen Republik, bei dem die Jungen und Mädchen gemeinsam Naturschutzgebiete erkunden.
Einziger Haken des themenorientierten Unterrichts: Es gibt dafür bislang keine Schulbücher. „Also haben wir das Material selbst erstellt“, sagt der Didaktische Leiter der IGS. Es steht online und in einer einheitlichen Form für alle Lehrkräfte zur Verfügung, damit auch Vertretungen oder neue Kolleginnen und Kollegen gut damit arbeiten können. Als Dieter Schmidt das Konzept jetzt im Religionspädagogischen Institut Loccum (RPI) bei der Jahreskonferenz für Lehrkräfte an Gymnasien und Gesamtschulen vorstellte, blickte er in erstaunte Gesichter: Was ist denn mit all den Vorgaben in den Lehrplänen? Auch die IGS Oyten bewege sich nicht außerhalb der Erlasse des Landes, erläuterte Schmidt. Sondern die Planungsgruppe habe akribisch herausgearbeitet, wie sich welche Nachhaltigkeitsziele mit welchen Lernzielen verbinden lassen. Den interessierten Kolleginnen und Kollegen riet er: Hospitieren, aber nicht kopieren. Das Oytener Modell lasse sich nicht eins zu eins und von heute auf morgen übertragen. Das Kollegium der IGS konnte aus eigenen Fehlern lernen – an einer lernenden Schule, die im Jahr 2012 mit einem 5. Jahrgang startete und 2021 die ersten erfolgreichen Abiturientinnen und Abiturienten entlassen konnte.
Dieter Schmidt zitiert gern den Göttinger Physiker und Pfarrerssohn Georg Christoph Lichtenberg: „Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muss anders werden, wenn es gut werden soll.“
Lothar Veit/EMA