Die Würde hängt im Stacheldraht
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An der EU-Außengrenze zwischen Polen und Belarus hängt das Menschenrecht im Stracheldrahtzaun. Vor einem Jahr erreichten uns schreckliche Bilder von dort - Menschen schliefen bei Minusgraden im Wald, darunter Familien mit kleinen Kindern. Es gab Tote. Weil Polen die Grenzen dicht gemacht hat, harren Viele im Freien aus. Wie ist die Lage jetzt? Ansgar Gilster war Teil einer EKD-Delegation, die sich ein Bild gemacht - und Hilfsmöglichkeiten ausgelotet hat.
Herr Gilster, Sie waren an der EU-Außengrenze zwischen Polen und Belarus unterwegs. Wie haben Sie die Lage jetzt erlebt?
Gilster: Zwar versuchen mittlerweile viel weniger Menschen, über Belarus in die EU zu gelangen, ansonsten ist die Lage jedoch unverändert. Das Lukaschenko-Regime – und mutmaßlich auch Putin – verspricht Menschen aus Afghanistan, Syrien, Irak und anderen Konfliktgebieten einen Weg in die EU und nutzt sie als politisches Druckmittel aus. Doch die östliche EU-Außengrenze ist seit letztem Jahr militärisch abgeriegelt, mit Stacheldraht und einem fast sechs Meter hohen, elektronisch überwachten Zaun. Wer es über den Zaun schafft, wird vom polnischen Grenzschutz in aller Regel direkt zurück nach Belarus gebracht. Solche sogenannten „Push-Backs“ sind illegal, dazu oft enorm brutal. Daher verstecken sich die Menschen und versuchen, sich weiter Richtung Westen durchzuschlagen. Doch bereits nach wenigen Tagen in den Wäldern und Sümpfen, ohne Trinkwasser und Nahrungsmittel, ist jeder Mensch unterkühlt, geschwächt, am Ende seiner Kräfte. Dann geht es nur noch um das nackte Überleben. Erst vor wenigen Tagen ist wieder ein Mensch tot aufgefunden worden.
Gab es Situationen oder Bilder, die Sie dort angerührt haben? Oder beeindruckt?
Gilster: Besonders beindruckend waren alle Begegnungen mit den unermüdlichen Aktivist*innen der polnischen Zivilgesellschaft. Seit über einem Jahr betreiben sie rund um die Uhr eine Notrufnummer für Schutzsuchende. Und sie durchstreifen die Wälder entlang der Grenze, um Menschen in Not zu finden und mit Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten, trockener, warmer Kleidung zu versorgen. Dabei werden sie von den Behörden eingeschüchtert und am Helfen gehindert. Trotzdem geben die Helfer*innen nicht auf.
Wie setzt sich die Evangelische Kirche für eine Verbesserung der Lage ein?
Gilster: Als Evangelische Kirche in Deutschland setzen wir uns seit Jahren gegen das Elend und Sterben ein, das die Abschottungspolitik entlang der EU-Außengrenzen verursacht. Dazu sind wir mit europäischen Partnerkirchen im Austausch, unterstützen Hilfsorganisationen und machen mit Ortsbesuchen sowie öffentlichen Aktionen auf das Thema aufmerksam. Und wir drängen in Berlin und Brüssel auf politische Lösungen, die die Würde und Rechte aller Menschen gleichermaßen schützen.
Was können Gemeinden oder Privatpersonen von Deutschland aus tun?
Gilster: Hinschauen und sich informieren ist das Wichtigste – damit die Not nicht aus dem Blick gerät. Und dann mit anderen Menschen zu sprechen und aktiv zu werden. Vielleicht eine Andacht zu dem Thema gestalten, einen Beitrag im Gemeindeblatt veröffentlichen oder Spenden sammeln. All das hilft, Humanität und Menschenwürde zu verteidigen.
Europa sieht sich gern als moderne, fortschrittliche, sichere Region, Bewahrerin und Kämpferin für Menschenrechte und "das Gute". Empfinden Sie das als zynisch angesichts der Lage an den Grenzen?
Gilster: Zynisch ist das Kalkül der europäischen Regierungen, die sagen: Je größer die Not von Menschen, die nach Europa flüchten, desto weniger neue Flüchtlinge werden kommen. Diese Annahme ist außerdem falsch. Denn sie unterschätzt vollkommen, wie verzweifelt fliehende Menschen sind. Und sie übersieht, wie diese Politik die Menschenrechte und Rechtssicherheit für alle Menschen in Europa gefährdet.
Sind sie gerne Europäer?
Gilster: Unbedingt! Deswegen nehme ich es persönlich, wenn wir die Menschenrechte preisgeben und Menschen zu Tausenden an unseren Grenzen sterben lassen. Ob an der polnisch-belarussischen Grenze, in der Ägäis, auf dem Balkan oder Mittelmeer: An der EU-Außengrenze entscheidet sich, was für ein Europa wir sind und sein wollen. Auch unsere eigene Humanität und Würde steht auf dem Spiel.
Christine Warnecke/EMA