"Hoffnung haben wir immer - aber Brasilien ist vollkommen gespalten"
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Luiz Inácio Lula da Silva ist erneut zum Präsidenten Brasiliens gewählt worden - doch das sehr knappe Resultat der Stichwahl hinterlässt das größte Land Südamerikas zutiefst gespalten. Auch in den evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden des Landes herrschten Streit und Ärger, sagt Pastorin Cristina Scherer. Die 45-jährige Brasilianerin ist seit November 2021 mit ihrem Mann und ihrer Tochter im niedersächsischen Bad Fallingbostel zu Hause. Sie arbeitet dort in der evangelischen Kirchengemeinde und zugleich beim Missionswerk in Hermannsburg bei Celle als Referentin für Ökumene.
Lula da Silva ist am Sonntag erneut zum Staatspräsidenten in Brasilien gewählt worden - haben Sie sich über diese Nachricht gefreut?
Cristina Scherer: Sein Sieg war wichtig, für die Gesellschaft, auch für die Kirche. Wir wussten, dass es eng werden würde, aber wir hatten immer Hoffnung, dass Lula gewinnen könnte. Unser Land hat sich in den letzten Monaten stark polarisiert, der scheidende Präsident Bolsonaro hat viel dazu beigetragen durch Fake News, Hass und Gewalt. Ihm waren auch die Beziehungen zu anderen Ländern nicht wichtig. Nun ist Brasilien endlich nicht mehr international isoliert. Lula ist etwa schon jetzt, zwei Monate vor seiner Vereidigung, zu der Klimakonferenz in Ägypten eingeladen worden, die in wenigen Tagen beginnt.
Sie haben sicher Kontakt zu Familie und Freunden in der Heimat - wie haben die den Wahlkampf und das knappe Resultat erlebt?
Scherer: Viele Familien in Brasilien sind zerstritten, die Politik sorgt für viel Ärger. Das Land ist vollkommen gespalten. Schauen Sie sich die Zahlen an: Nur zwei Millionen Stimmen Vorsprung für Lula bei 156 Millionen Stimmberechtigten. Im Ausland war das Resultat eindeutiger: Als Exil-Brasilianer haben wir in Hamburg gewählt. An beiden Terminen haben wir viele Landsleute und Freunde getroffen - und die meisten von ihnen haben für Lula gestimmt.
Sie sind aktuell Pastorin in Fallingbostel, ihre Heimatkirche ist aber die lutherische Kirche Brasiliens. Welche Rolle spielt sie in der brasilianischen Gesellschaft?
Scherer: Wir haben ungefähr 600.000 Mitglieder, aber in einem Land mit 214 Millionen Menschen ist das nicht viel. Die meisten lutherischen Gemeinden befinden sich im industriell starken Süden Brasiliens, wo ohnehin eine große Mehrheit Bolsonaro und seinen wirtschaftsliberalen Kurs gewählt hat. Das hat zu viel Streit und Diskussionen geführt.
Abgesehen von der Präferenz für einen Kandidaten - worum ging es thematisch?
Scherer: Einige Gemeinden haben ihre Pastoren als politisch links kritisiert, wenn sie über biblische Themen wie Freiheit und Gerechtigkeit predigten. Das ist das Resultat von vier Jahren Bolsonaro. Wir sprechen als Kirche über Frieden und Jesu Botschaft der Liebe - aber in der Welt des bisherigen Staatspräsidenten spielt das alles keine Rolle. Bolsonaro hat den Glauben als Waffe gesehen. Für ihn sollten Pastorinnen und Pastoren die Kanzel als politische Bühne nutzen. Manche Gemeindemitglieder haben sogar gefordert, dass wir offen für Bolsonaro eintreten. Wir respektieren aber unsere Vokation und wollen die Kanzel für das Evangelium reservieren.
Bolsonaros Partei hält die Mehrheit im Kongress, der neue Präsident muss sich mit ihm arrangieren: Was gibt Ihnen Hoffnung, dass Lula dennoch Projekte anpacken und Dinge verändern könnte?
Scherer: Ich glaube schon, dass er Chancen hat. Aber er hat auch gesagt, dass wir Brasilianer dafür viel Geduld und Ausdauer brauchen werden. Lula hat nicht die Mehrheit, das stimmt. Aber seine Linkspartei hat viele andere Parteien auf ihrer Seite, auch aus dem Zentrum und von rechts. Wir müssen über den gesellschaftlichen Frieden im Land sprechen und sollten Menschen mit anderer Meinung nicht als unsere Feinde sehen. Ich denke, außer Bolsonaro sehen das die meisten Politiker so. Hoffnung haben wir Brasilianer immer. Die müssen wir auch haben.
Bolsonaro war das erklärte Feindbild der weltweiten Klimabewegung. Nun siegte er in fünf von neun Amazonas-Staaten, obwohl er die Abholzung des Regenwaldes massiv vorantrieb. Aus europäischer Sicht erscheint das absurd - können Sie es erklären?
Scherer: Dieses Ergebnis muss man differenziert betrachten. Wir sprechen da über riesige Staaten, teilweise so groß wie Deutschland. Dort haben sich die lokalen Gouverneure stark für Bolsonaro eingesetzt. Und er hat zwar in den großen Städten Mehrheiten gewonnen, aber in den ländlichen Regionen - da, wo der Regenwald liegt - gab es auch viele Stimmen für Lula. Die indigenen Bewohner haben zum Beispiel in großer Zahl für den Wechsel gestimmt.
Unter Bolsonaro eskalierte auch die Gewalt gegen die indigene Bevölkerung. Welche Schritte muss Lula unternehmen, um deren Rechte zu stärken?
Scherer: Lula hat im Wahlkampf gesagt, dass er ein Ministerium für die indigenen Völker schaffen will. Auch die Rechte der Frauen will er stärken. Bei den Parlamentswahlen Anfang Oktober sind immerhin auch fünf indigene Frauen als Abgeordnete gewählt worden. Das gibt mir Kraft und Mut, dass sich Dinge doch verändern können. In den vergangenen vier Jahren ist leider wenig Positives passiert.
Alexander Nortrup/Content-Werkstatt epd