Ein Halleluja im Gefängnis
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Die Justizvollzugsanstalt Sehnde bei Hannover zählt zu den größten Haftanstalten Niedersachsens. Über 500 Menschen sitzen hier ein. Die evangelische Pastorin Kirsten Fricke ist seit 2015 als Seelsorgerin für sie da. Zusammen mit drei weiteren Kollegen, darunter ein katholischer Gemeindereferent mit Zusatzstudium zum Supervisor und ein Imam. „Hier im Gefängnis haben wir es schließlich mit vielen Religionen zu tun“, erzählt die 45-Jährige.
Aber was bewegt eine Frau, Gefängnispastorin zu werden? „Nach dem Vikariat habe ich statt sofort ins Gemeindepfarramt in die offene soziale Arbeit der Diakonie gewechselt, habe daneben Diakoniewissenschaften studiert und bin dann in die Gefängnisseelsorge gegangen“, sagt Kirsten Fricke, die sich schon als junge Frau erst ehrenamtlich in der Kirche, später in Diakonischen Einrichtungen um Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben, gekümmert hat.
In der Justizvollzugsanstalt Sehnde bekommt die Pastorin in Gesprächen grauenhafte Geschichten zu hören, schaut auf gebrochene Lebensläufe und ahnt, dass ihr Gegenüber – vielleicht mit Unterbrechungen - oftmals den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen wird. Auffällig sind die Häftlinge aufgrund von Straftaten, aber auch durch schlechtere Bildungsmöglichkeiten und Armut geworden.
Und wie reagieren die Menschen hinter Gittern auf das seelsorgerische Angebot? Sind sie in ihrer Situation überhaupt offen für Kirche? Oder anders: Was wäre das Gefängnis ohne Kirche? „Mit Bibellesen und Gebeten haben in der Vergangenheit wohl die wenigsten Inhaftierten etwas im Sinn gehabt, können mit Seelsorge unter Haftbedingungen aber durchaus etwas anfangen“, erklärt Kirsten Fricke. Für Bernd B., Ex-Häftling in der Justizvollzugsanstalt Sehnde, war die Seelsorge ein wichtiger Rückzugsraum. Denn das seelsorgliche Gespräch ist für die Menschen im Knast der einzige Ort, an dem sie offen aussprechen können, was sie bewegt. Hier können sie wütend sein, hier dürfen Tränen fließen. Hier können die Männer Macho-Allüren ablegen und sagen, wenn es ihnen schlecht geht. Anders als die Bediensteten in der Justizvollzugsanstalt unterliegt Kirsten Fricke dem Beicht- und Seelsorgegeheimnis. „Man findet in der Haft zwar viele Kumpel, sollte ihnen aber nicht zu viel erzählen, denn damit macht man sich angreifbar, wird schnell zum Opfer“, weiß Bernd B. aus neun Jahren Gefängnisalltag.
Bekehren will die Pastorin die Gefangenen nicht. Sie wartet, bis ihr von Inhaftierten ein schriftlicher Antrag mit der Bitte um ein Gespräch vorliegt.
Durch die Krise, die die Inhaftierung bedeutet, wird bei vielen Männern im Gefängnis etwas aufgebrochen. „Dann tut es gut, wenn jemand ein offenes Ohr hat, Mut zuspricht und aus Situationen, die noch so traurig sind, ein Stück weit Leben herausholt“, erzählt Kirsten Fricke. „Nicht selten kommt es vor, dass wir nach dem Gespräch zusammen das „Vater unser“ beten oder die Männer Block und Buntstifte annehmen, um ihre Gedanken in der Zelle in eine andere Richtung lenken zu können.“ Mehrmals im Jahr stiftet sie die harten Kerle zum Basteln von Ostergeschenken, Laternen oder Adventskalender an. So bekommen die Familienväter Gelegenheit, etwas zurückzugeben. Etwa dafür, dass Frau und Kinder in der Haftzeit zu ihnen stehen.
Aber kommt man in Situationen voller Emotionen nicht irgendwann an seine Grenzen, als Ansprechpartnerin von Einbrechern, Räubern, Vergewaltigern und Mördern? „Ja, denn ich habe noch nie so viele Männer aus Wut oder Trauer weinen sehen und das berührt mich auch“, sagt Kirsten Fricke. Sie sieht es als großen Vorteil, in der Seelsorge nicht allein, sondern unter Kollegen zu sein. „Manchmal muss man Gesprächspartnern auch ausweichen und dann ist es gut, an männliche Kollegen abgeben zu können“, sagt die Pastorin. Unterschiede zwischen den Menschen wolle sie nicht machen. Davor, dass sich Vorurteile bestätigen, sei sie aber nicht gefeit. Immer jedoch gelte das unausgesprochene Gesetz: Die Seelsorge ist unantastbar. „Das nehmen die Gefangenen durchaus wortwörtlich“, so Kirsten Fricke.
Aber wie viele Gefangene nehmen das kirchliche Angebot im Knast eigentlich an? Sie kommen zwar freiwillig, aber wissen sie die Arbeit der Seelsorge tatsächlich zu schätzen oder ist das Gespräch und der sonntägliche Gottesdienst einfach nur eine Abwechslung zum langweiligen Gefängnisalltag? Beides, sagt die Pastorin. Die Mitglieder der Chorgruppe, die regelmäßig unter der Leitung der christlichen Seelsorge proben, sind mit viel Leidenschaft bei der Sache. „Durch das Singen, Meditieren und Musik machen habe ich nicht nur zu Gott, sondern auch zu mir gefunden“, sagt Bernd B. Die Seelsorge, so der ehemalige Gefangene, habe ihm das Leben gerettet und Wege aufgezeigt, straffrei zu leben.
60 bis 70 Gottesdienstbesucher unterschiedlichster Religionszugehörigkeiten zählt Fricke an jedem Sonntag in der „Gefängniskirche“. Und erreicht damit eine Besucherquote, die sich manche Kirchengemeinde in dörflicher Gegend wünschen würde. „Bei uns ist jede Religion, jeder Mensch willkommen.“ Das gilt auch für Bediensteten der JVA. Ihnen bieten die Seelsorgern ebenfalls ihren Beistand an. „Vor allem in Belastungs- und Konfliktsituationen sind wir gefragt“, sagt Kirsten Fricke.
Tanja Niestroj/EMA