Startseite Archiv Tagesthema vom 11. Juli 2022

Die Stimme aus Kiew

Wie eine Ukrainerin mithilfe der Musik in Deutschland heimisch wurde

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Katja aus Kiew ist erst wenige Tage in Deutschland, als sie zufällig in eine Kirche gerät und fasziniert der Orgelmusik lauscht. Die Musik hilft ihr, sich auf der Flucht vor dem Krieg ein neues Leben in einem fremden Land aufzubauen.

Burgdorf. Eigentlich will sie im Gemeindezentrum nur etwas besprechen. Doch da dringt plötzlich dieser Orgelklang durch eine geschlossene Tür herüber. Kateryna Prykhodko (36) erkennt sofort, dass es ein Stück von Bach ist. „Musik ist mein Leben, meine Seele.“ Leise öffnet die Ukrainerin die Tür zum Kirchenraum, setzt sich still auf einen Stuhl in der ersten Reihe und lauscht versunken der Musik. „Ich sah, dass sie weinte“, erinnert sich Ilsabe Bartels-Kohl (77), die damals Mitte März im evangelischen Paulus-Gemeindezentrum in Burgdorf bei Hannover an der Orgel übte. Rasch kamen die beiden Frauen ins Gespräch. Es war der Anfang einer ungewöhnlichen Freundschaft. Einer Freundschaft, in der die Musik alle Grenzen von Sprache, Nationalität und Generationen überwunden hat.

Katja, wie sie von allen genannt wird, ist damals erst wenige Tage in Deutschland - auf der Flucht vor dem Krieg, den Russland gegen ihr Heimatland angezettelt hat. Eine von rund 889.000 Frauen, Männern und Kindern, die bisher aus der Ukraine nach Deutschland gekommen sind. Und von rund 85.000 in Niedersachsen. Katja spricht kein Wort Deutsch und nur wenig Englisch. Doch sie ist ausgebildete Sängerin mit einem Abschluss der Uni in Kiew. In der Pauluskirche sucht sie Kontakt zu anderen Geflüchteten, hier hat die evangelische Kirche einen „Blau-gelben Treffpunkt“ eingerichtet. Es gibt Sozialberatung, Sprachkurse, gespendete Kleidung. Und zum Glück auch Musik.

„Ich saß da, habe gebetet und nur gedacht, was mache ich bloß jetzt?“, erinnert sich Katja. Die Organistin fragt, ob sie weiterspielen soll. Die Ukrainerin nickt und beginnt mitzusingen. Und später erzählt sie der fremden Frau ihre Geschichte: Wie sie während eines Urlaubs in Ägypten vom Kriegsbeginn in der Ukraine erfahren hat. Von der Sorge um ihre Familie. Wie sie auf der Rückreise aus Ägypten mit ihrer Tochter, ihrer Mutter und einem Neffen zunächst nach Polen kam, dann nach Berlin und nach Hannover. Und schließlich nach Burgdorf, einem beschaulichen Städtchen mit 30.000 Einwohnern rund 20 Kilometer vor den Toren der Landeshauptstadt.

Denn hier lebt Sergej, ein Studienfreund ihres Cousins. Katja kann mit ihrer Familie kurzfristig in seinem Haus unterkommen. Sergej ist Russe, doch Putins Krieg lehnt er ab, und Hilfe für Flüchtlinge aus der Ukraine ist für ihn selbstverständlich.

Doch auch im Haus ihrer neuen Freundin ist sie seit der ersten Begegnung in der Kirche nun häufig zu Gast. Ilsabe Bartels-Kohl, die viele Jahre als Musikerin in der Paulus-Gemeinde gearbeitet hat, betreut im Ruhestand einen kleinen Chor, der sich regelmäßig in ihrem Privathaus trifft. Jeden Montag kommt jetzt auch die Ukrainerin zur Übungsstunde. Da trifft es sich gut, dass der Chor schon bald ein Konzert gibt. Aufgeführt wird das „Bonhoeffer-Oratorium“. Dietrich Bonhoeffer, der Pastor und Widerstandskämpfer gegen Hitler und den Krieg - aktueller geht es kaum für Katja, die sich der ukrainisch-orthodoxen Kirche verbunden fühlt und eine Kette mit einem Kreuz um den Hals trägt.

Ilsabe Bartels-Kohl merkt sofort, dass sie eine professionell ausgebildete Stimme vor sich hat - ein Juwel für ihren Chor. So plant sie für Katja spontan ein kleines Solo ein. Zuvor muss sich die Sängerin allerdings mit dem völlig fremden deutschen Text herumquälen. „Sie hat das alles innerhalb von einer Woche gelernt - fantastisch“, schwärmt die Chorleiterin. Mit ihrem kräftigen warmen Mezzosopran bereichert Katja jetzt den Chor. Und als beim Konzert rund 120 Leute die Pauluskirche füllen, ist sie der Star: „Die Leute haben die Hälse gereckt. Keiner kannte sie. Jeder hat gedacht: Wo kommt diese Stimme her?“

Für Katja selbst ist die Gemeinschaft der rund 30 Sängerinnen und Sänger im Chor eine wichtige Erfahrung, die ihr Halt gibt in ihrer ungewissen Situation. „In der Ukraine denken die Leute manchmal, Deutsche sind nüchtern und streng“, sagt sie. „Aber ich habe das ganz anders erlebt. Ich habe hier viel emotionale Wärme erfahren.“ Die Aussage des mittlerweile abberufenen ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk, viele Ukrainer fühlten sich in Deutschland nicht richtig willkommen, kann sie jedenfalls nicht bestätigen.

Doch wie soll es weitergehen? Katja hat lange hin und her überlegt. Zurück in die Ukraine? Zu gefährlich für sie und ihre Tochter. In Deutschland bleiben? Vielleicht. Doch Katja hat sich inzwischen für eine dritte Option entschieden. Sie wird zu ihrem Cousin ziehen, der seit vielen Jahren in den USA lebt. „Aber ich bin ein bisschen traurig, ich gehe hier weg wie von zu Hause“, sagt sie. Schon bald wird der Flieger starten. Ilsabe Bartels-Kohl hat Verständnis für die Entscheidung, auch wenn sie den Entschluss bedauert. Für sie steht sowieso fest: „Wir werden immer in Kontakt bleiben.“

Michael Grau, epd Landesdienst Niedersachsen-Bremen