Rassismus: "Wir müssen uns alle auf den Weg machen"
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Autorin Melanelle B.C. Hémêfa hat Mitte Juni bei einer Tagung der Evangelischen Erwachsenenbildung (EEB) Niedersachsen in Hannover über Rassismus gesprochen. Im Interview erklärt sie, warum ihr das Thema so wichtig ist.
Poetresse, Moderatorin, Blacktivistin, Bildungsreferentin - wenn ich Dich im Netz suche, finde ich viele Aufgaben, die Du wahrnimmst. Wie kann ich mir Deinen Alltag vorstellen?
Hémêfa: "Aktuell promoviere ich an der TU Berlin zu rassistischen Hassverbrechen zwischen 1945 und 1992. Da stecken viele wichtige Fragen meiner Tätigkeiten drin: Woran mache ich fest, dass etwas rassistisch ist? Wie definiere ich Rassismus? Die größte Aufgabe ist es, die eigene Betroffenheit zu relativieren und alles auf einer analytischen Ebene zu betrachten. Dieselbe Hürde besteht als Bildungsreferentin zum Thema Rassismus. Das Schreiben, Workshops zum Thema Empowerment und das Kuratieren sind dann meine Ventile. Kunst steht einfach für sich, ohne dass ich viel sagen muss."
Beim geschriebenen Wort geht es dann ja auch vor allem um den Inhalt, weniger um äußere Merkmale.
Hémêfa: In der Tat. Man merkt manchmal gar nicht, wie viele Markierungsformen es eigentlich gibt: Hautfarbe, Akzent. Der spielt zum Beispiel beim Anti-Slavismus eine Rolle und muss genauso überwunden werden.
Im Netz findet man eine viel beachtete, sehr kämpferische Rede, die Du 2020 in Mannheim bei einer #blacklivesmatter-Demo gehalten hast. Was hat Dich dazu motiviert?
Hémêfa: Als ich die Nachricht von George Floyds Tod (ein schwarzer US-Amerikaner, am 25. Mai 2020 erstickt durch Polizeigewalt im US-Bundesstaat Minnesota, Anm. d.Red.) gehört habe, habe ich erst einmal die Stille gesucht und gebetet: Gott, was soll ich nur tun? Und dann bin ich mit Wut und Trauer weitergezogen. Ich habe gemerkt, dass ich nicht schweigen darf, sondern diese Situation nutzen muss, um zu Wort zu kommen. Bis zu der Demo in Mannheim, wo 6.000 Menschen auf dem Platz standen, den ich als Studentin schon so oft betreten hatte.
Es ging Dir bei der Rede unter anderem um all jene, die zuhören, nicht schwarz sind und sich fragen: Warum regt ihr Euch eigentlich alle so auf?
Hémêfa: Genau. Rassismus ist ein System, das seit Jahrhunderten besteht. Es ist ein Wissen, das wir in uns tragen. „Und es ist Seife, eine Badewanne, ein kleines Mädchen und der Versuch, sich die schwarze Haut abzuwaschen“ (Melanelle zitiert hier aus der Rede, Anm. d.Red.). Neben der emotionalen Seite ist oft auch gar nicht klar, worüber wir eigentlich sprechen, welche Dynamiken Rassismus produziert. Die Begriffe zu klären kann so viel helfen. Ich würde gern Menschen einladen: Bildet Euch weiter zu Rassismus, um diese Welt gerechter zu machen. Ich glaube, wir müssen uns einfach alle auf den Weg machen.
Bleiben wir einmal bei den Begriffen. Es gibt Menschen, die sagen: Rassismus ist als Begriff schwierig. Er setzt voraus, dass es überhaupt Rassen gibt - was wissenschaftlich längst widerlegt ist. Und er umfasst keine anderen Ausgrenzungen, etwa wegen des Geschlechts. Wäre Diskriminierung nicht der bessere Begriff?
Hémêfa: Es stimmt, dass der Begriff Rassismus schwierig ist, weil wir ungern darüber sprechen. Ich benutze ihn dennoch, weil er das Potenzial hat, die verschiedenen Ebenen wie den institutionellen oder internalisierten Rassismus zu beschreiben. Diskriminierung ist für mich deutlich problematischer, denn das ist ein Sammelbegriff, der beim Rassismus die strukturelle Ebene nicht verdeutlicht und letztlich bei der individuellen Interaktion stehen bleibt. Ausgehend von diesem Verständnis wurde in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland auch über Rassismus gesprochen. Auch der Begriff Ausländerfeindlichkeit trifft es nicht, weil er die mehrheitsgesellschaftliche Verantwortung ausklammert: Wer bekommt Wohnungen, wer nicht? Wer wird gefördert, wer bekommt welche Jobs? Wer wird bei Studien befragt, wer nicht?
Wir planen als Journalisten täglich Geschichten, suchen Personen, von denen sie handeln - und tappen regelmäßig in die Falle, bestimmte Gruppen gar nicht erst mitzudenken. Was muss passieren, damit wir als ganze Gesellschaft nicht mehr so viele Menschen ausgrenzen?
Hémêfa: Ich glaube, dass es schon eine ganz andere Ausgangsbasis gäbe, wenn Rassismus an Schulen gelehrt werden würde. Dann würden wir bei Workshops nicht mehr so ausführlich die Definitionen bearbeiten, sondern gleich zu den konkreten Fragen kommen. Bei diesem Thema sind einfach viele Emotionen im Raum - und an denen kommt man erst vorbei und kann mit ihnen arbeiten, wenn eine gemeinsame Grundlage geschaffen ist. Ansonsten ist so etwas wie die Abbildung eines weißen Jesus für einige ein Problem, andere fragen: Wieso? Was ist denn daran problematisch?
Und? Was ist an einem weißen Jesus problematisch?
Hémêfa: Es ist wichtig zu reflektieren: Wie sehe ich die Welt und warum sehe ich sie so? Wie offen sind zum Beispiel unsere Kirchen für Menschen, die nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehören und wie repräsentativ und wahr sind solche Bilder im Angesicht der geschichtlichen Umstände? Es gibt eben auch beim Glauben viele Ansätze, wie wir uns bekennen, ohne kolonialistische Bilder zu reproduzieren. Wenn es um das Evangelium und seine Darstellung geht, sollten wir angesichts der im Kolonialismus geschehenen Instrumentalisierung besonders sensibel sein, finde ich. Wie legen wir das rassismuskritischer aus? Es gibt dazu viel Material. Die Frage ist nur: Sind wir bereit, es auch zu reflektieren und anzuwenden?
Das klingt danach, sich permanent ertappt zu fühlen und keine Fehler machen zu wollen. Wie gelingt dieser Perspektivwechsel auch ohne Schuldgefühle?
Hémêfa: Am besten ist es immer, miteinander ins Gespräch zu kommen: Welche Perspektive habe ich, welche Du? Und wer hat in diesem Rahmen gerade die Deutungshoheit? Wer ist betroffen? Niemand definiert sich selbst gern als Täter. Das ist im ersten Moment schmerzhaft. Aber als weiße Person muss ich mich einfach damit auseinandersetzen. Sonst werde ich einfach nie erfahren, welche Privilegien ich eigentlich besitze. Beschreibungen wie „schwarz malen“ oder „schwarz fahren“ sind vielleicht nicht böse gemeint. Das ändert aber nichts daran, dass sie verletzen. Das ist bitter, aber die Realität.
Welche Strategie empfiehlst Du, um sensibler für Rassismus zu werden?
Hémêfa: Ich persönlich bin ja der Meinung, dass am besten alle einen Workshop gebrauchen könnten. Ich stehe dafür gern zur Verfügung (lacht). Im Ernst: Wir brauchen rassismuskritische Bildung. Ich halte das für den einzigen gangbaren Weg. Sonst wirst Du immer wieder in dieselben Fettnäpfchen treten. Das ist dann so, als wenn Du eine Sprache lernst und ihre Vokabeln gar nicht beherrschst. Du kannst vielleicht Dinge auswendiglernen - aber eigene Gedanken wirst Du nie formulieren. Und ohne die Grundlagen reden wir einfach aneinander vorbei. Als zweites sollte es in Institutionen auch immer eine unabhängige Beschwerdestelle geben, die Dinge klären hilft. Und wenn es die nicht gibt, dann sind wir wieder beim strukturellen Problem. Das alles sollte aber vor allem nicht erst bei einem Zwischenfall passieren. Sich selbst spiegeln lassen in einem Workshop, das hilft einfach immer. Denn wir haben alle Flecken und Dinge, die wir selbst nicht sehen.