"Jetzt grüßen sie sich im Supermarkt ..."
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An einen Moment denkt Esther Nest besonders gerne zurück. "Tischgebet? Ne, finde ich nicht so gut." Der Vater, der in diesem Moment vor ihr steht, macht aus seinem muslimischen Glauben keinen Hehl. Er möchte sein Kind eigentlich ganz bewusst in Nests Kindertagesstätte anmelden. Sein Kind soll eben dort seine ersten Freundschaften schließen, wo es später auch die Grundschule besuchen wird. Aber zu einem christlichen Gott beten - vor jedem Essen? Der Vater zögert.
Esther Nest leitet eine der beiden Kitas der Kirchengemeinde in Westercelle. Insgesamt 175 Plätze stellen sie, weitere Krippenplätze bietet die Caritas um die Ecke an. Eine städtische Einrichtung gibt es in diesem alt gewachsenen Stadtteil Celles nicht. Was nun? Nest, selbst Kirchenvorstand in einer anderen Kirchengemeinde, hat dem Vater klar erklärt, was es bedeutet, sein Kind in in einen kirchlichen Kindergarten zu schicken. "Wir erwarten, dass alle, die hier herkommen, unseren Werten gegenüber genauso offen gegenübertreten, wie wir offen sind für sie." Der Vater lässt sich dies durch den Kopf gehen - und sagt zu.
Nein, sagt Nest, ein Familienzentrum sei ihre Kita nicht. Sagt es, zögert - und erzählt. Vom dörflichen Charme Westercelles, davon, dass sich letztlich doch irgendwie alle begegnen. "Wir arbeiten hier alle zusammen: Die Kitas, die Grundschulen, die Oberschule." Aus dem Ortsgefüge seien sie nicht wegzudenken. Wer auch immer eine Partnerschaft suche für einen karitativen Zweck, lande ohnehin bei ihnen: die Feuerwehr, der Schützenverein, ...
Nest erzählt, dass die Gruppen in beiden Kitas sehr durchmischt sind. "Rund ein Drittel aller Kinder in beiden Einrichtungen haben inzwischen einen Migrationshintergrund." Das war nicht immer so. Aber mit dem großen Gewerbegebiet hat das Bildungsbürgertum Westercelles eben auch einen Gutteil neuer Nachbarschaft gewonnen. "Und das merken die Menschen zu allererst in einer Kita." So niedrig sei die Hemmschwelle nirgends. "Höchstens noch bei der Tafel."
Was Esther Nest in Westercelle ein gewachsenes Gefüge nennt, beschreibt Doris Lehrke-Ringelmann rund 25 Kilometer weiter südlich als geradezu natürliche Konsequenz. Lehrke-Ringelmann ist "Koordinatorin im Familienzentrum der Paulusgemeinde". Der gravierendste Unterschied zwischen den beiden Einrichtungen liegt buchstäblich in ihnen: der Neubau am südöstlichen Stadtrand Burgdorfs verfügt eben nicht nur über Räume für die Kinderbetreuung. Bei ihm sind die Folgen von Kitas wie in Westercelle einfach schon mitgedacht. "Dass wir die Kinder der geflüchteten Frauen aus der Ukraine aufnehmen, reicht ja nicht." Die Mütter selbst wollen Deutsch lernen - und das können sie jetzt in den neuen Räumen.
Das Burgdorfer Familienzentrum gründet auf rund 20 Jahren Erfahrung, die die einstige Nur-Kita in Burgdorfs Südstadt förmlich sammeln musste. Als an den Rand der Stadt immer mehr Migranten zogen. Als der Bedarf für einen Mittagstisch für deren Kinder förmlich explodierte. Als klar war: "Ohne unsere Hausaufgabenhilfe, ganz bewusst in ganz kleinen Gruppen, haben die keine Chance."
Integration, das Zusammenbringen vieler verschiedener Menschen und ihrer Erfahrungen, einfach weil ihre Kinder dieselbe Einrichtung besuchen, diese Funktion eint Westercelle und Burgdorfs Südstadt. "Diese Menschen hätten sich sonst nie kennengelernt", sagt Lehrke-Ringelmann. "Und jetzt grüßen sie sich im Supermarkt an der Kasse."
Das aber gelte nicht nur für die Eltern der betreuten Kinder, sondern auch für die Menschen, die sich um sie kümmern. "Wir arbeiten hier mit einem großen Netzwerk Ehrenamtlicher. Und das sind oft Menschen, die ihre beruflichen Kompetenzen hier einbringen - und zugleich nach dem Ende ihrer Berufstätigkeit wieder ein Stück zurück ins Leben kommen."
Wer Lehrke Ringelmann nach einem spontanen Wunsch fragt, dem springt ein "grundständig!" entgegen. Gemeint ist: Grundständiges Personal, weil grundständig und eben nicht nur projektbezogen bezahlt. "Ich kenne noch die Zeit als arbeitslose Pädagogin, als man einfach alles angenommen hat. Diese Zeiten sind vorbei. Berufsanfänger machen das nicht mehr mit." Wer heute eine Stelle in einer Kita annehme, "will einen echten Job mit richtigem Gehalt."
Rebekka Neander/EMA