Startseite Archiv Bericht vom 27. Juni 2022

„Erschossen zu werden ist nicht lustig“

Im Religionsunterricht werden Themen angesprochen, die sonst nirgends Platz finden

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„Geht Sterben wieder vorbei?“ Auf dem Pult von Bianca Reineke liegt dieses Bilderbuch. Und wenn man ihre Schülerinnen fragt, was ihnen spontan zum Religionsunterricht einfällt, sagen sie: Bilderbücher. Um Tod und Sterben ging es zuletzt in der Klasse für Erziehende an der Elisabeth-Selbert-Schule in Hameln, einer berufsbildenden Schule in Trägerschaft des Landkreises Hameln-Pyrmont. Wer in einer Kita arbeitet, muss schon mal mit Fragen rechnen wie „Geht Sterben wieder vorbei?“ oder „Wo ist mein Opa jetzt?“

„Das sind Themen, die in anderen Fächern nicht vorkommen“, sagt Kim Söffker (22) aus Hessisch Oldendorf. Für die jungen Erwachsenen sind diese Themen nicht nur Schulstoff, sondern wichtig für ihren weiteren Berufsweg. Wie auch Gespräche über Ethik. „Ich habe hier das erste Mal richtig mit Ethik zu tun gehabt, vor allem Medienethik“, sagt Kilian Opitz (23) aus Emmerthal.

Dafür schauen die Klassen dann durchaus gemeinsam Ausschnitte aus „Schwiegertochter gesucht“, „Germany’s Next Topmodel“ oder dem „Dschungelcamp“. „Seitdem sehe ich manches kritischer, was zu Hause oft nur als Berieselung läuft“, wirft Kerstin Wittlake (49) aus Bad Pyrmont ein. Welche Rollenbilder von Mann und Frau werden im Fernsehen gezeigt? Wie wirkt sich das auf Kinder und Jugendliche aus? Welche Folgen hat es, wenn Menschen in erniedrigenden Situationen zur Schau gestellt werden? Über solche Fragen wird im Religionsunterricht gesprochen.

Kilian Opitz hat im Praktikum in der Grundschule gemerkt, dass die Kinder Situationen aus der Netflix-Serie „Squid Game“ nachspielen. Der schulpsychologische Dienst rät davon ab, die Serie Kinder unter 16 Jahren zu zeigen, weil sie Gewalt verherrliche und das Leben eines Menschen als wertlos erachte. Im Religionsunterricht hätten sie deshalb darüber gesprochen, wie sie in ihrem künftigen Arbeitsfeld der Sozialpädagogik damit umgehen können. „Erschossen zu werden ist nicht lustig“, sagt Kim Söffker. Auch sie wurde bei der Nachmittagsbetreuung in einer Grundschule damit konfrontiert, dass Kinder die Serie kennen.

Religionslehrerin Bianca Reineke lässt ihre Klassen im Unterricht über solche Inhalte mitbestimmen. „Es ist die Gnade des Religionsunterrichts, dass wir Zeit für tagesaktuelle Probleme haben“, sagt sie. Und von anderen Lehrkräften sei ihr zugeflüstert worden: „Gut, dass du das thematisierst. Wir trauen uns nicht.“ Für Kim Söffker ist entscheidend, „dass wir hier frei unsere Meinung sagen können.“ Und Kilian Opitz betont: „Wir können uns hier auch persönlich reflektieren, nicht nur beruflich.“

Im Religionsunterricht geht es nicht darum, den Schülerinnen und Schülern eine kirchliche Lehrmeinung aufzudrücken. „Ich sage immer, was ich als Berufschristin denke“, sagt Reineke. Aber auch andere Sichtweisen hätten ihren Platz, seien sie religiös oder nicht. Knapp 2.000 Jugendliche und junge Erwachsene aus 34 Nationen besuchen die Elisabeth-Selbert-Schule. Beispiel Trauerfälle: Im Lehrplan heißt es, die angehenden Nachwuchskräfte „müssen in Trauer und Tod begleiten können“. Doch in staatlichen Kitas dürfe man die christliche Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod nicht thematisieren. „Deshalb haben wir uns mit Ritualen beschäftigt, die auch ohne christliche Symbolik auskommen“, sagt Reineke. Und man sollte klären, was die Eltern eines trauernden Kindes glauben.

Andererseits gebe es sehr viele Kitas in kirchlicher Trägerschaft, gibt Kerstin Wittlake zu bedenken. Potentielle Arbeitgeber also für den Berufsnachwuchs.

Bianca Reineke ist Pastorin im Dienst der Hannoverschen Landeskirche. Für ihre Unterrichtsstunden erhält die Kirche eine Erstattung vom Land. Doch das ist nur ein Teil ihrer Arbeit. Häufig ist Reineke als Seelsorgerin gefragt – nicht nur, wenn Schülerinnen und Schüler Probleme haben, sondern auch für das Kollegium. Die Bandbreite an einer Berufsschule ist groß: Es kann um Drogenhandel gehen, um häusliche Gewalt oder Zwangsheirat. Aber auch um Trennungsschmerz, finanzielle Sorgen oder Depressionen. „Da ist ein großes Vertrauensverhältnis, weil ich als Pastorin unter Schweigepflicht stehe“, sagt Reineke. „Und weil die Leute mein christliches Menschenbild kennen. So entsteht auch eine Bindung zur Kirche.“ Nicht zuletzt aufgrund des umfassenden Beratungsangebotes wurde die Elisabeth-Selbert-Schule 2017 als Hauptpreisträgerin mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet.

Kim Söffker bezeichnet sich als nicht religiös, auch wenn sie Mitglied der evangelischen Kirche ist. „In unserem Bekanntenkreis sind die meisten nicht in der Kirche, weil sie Steuern sparen wollen.“ Für sie ist das noch nicht entschieden. Sie möchte vielleicht kirchlich heiraten, ihre Kinder taufen lassen. Womöglich von Bianca Reineke? Es wäre nicht das erste Mal: „Ich habe in den vergangenen Jahren sechs Erzieherinnen aus meinem Unterricht und mehrere Kinder getauft, Kollegen verheiratet und Großmütter beerdigt.“

Lothar Veit / EMA