Marcia Palma setzt sich für eine vielfältige Kirche ein
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Unterschiedlichstes, sogar Gegensätzliches vereint die 47-jährige Marcia Palma in sich. Einen Vielklang der Einflüsse: Katholisch und evangelisch, Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, das Aufwachsen in einer Diktatur und in einer Demokratie, das Leben in Deutschland und Südamerika. Sie ist Chemikerin und Theologin. Bald wird sie hoffentlich Pastorin sein.
Die Hannoversche Landeskirche hat ihr in der Gemeinde Herrenhausen-Leinhausen ein Vikariat angeboten. Keine Selbstverständlichkeit, denn die evangelischen Landeskirchen Deutschlands tun sich bislang eher schwer, Menschen mit einem Theologiestudium, das außerhalb Deutschlands absolviert und abgeschlossen wurde, zum Vikariat zuzulassen. Umso größer ist Palmas Dankbarkeit für diese Chance. Denn Pastorin zu sein, die Theologie als Lebensstil, das, so weiß sie inzwischen, ist ihre Berufung. Doch bis hierher war es ein langer Weg.
Als sie am 24. Dezember 1974 in Chile geboren wird, ist die Diktatur Pinochets gerade etwas über ein Jahr alt. Seit dem Putsch werden hunderte Menschen entführt, verhaftet, gefoltert, oder getötet. Manche verschwinden spurlos. Etliche werden in abgelegene Landesteile verbannt. Andere versuchen, Chile zu verlassen. Die ersten Jahre des Pinochet-Regimes sind geprägt von Furcht, Terror und Gewalt. In diesem Klima wächst Marcia Palma in den ersten Jahren ihres Lebens auf.
Mit voranschreitender Dauer der Pinochet-Regierung lassen die Repressalien gegen das chilenische Volk etwas nach. Doch nach dem starken Wirtschaftsaufschwung zwischen 1977 und 1981 stürzt die weltweite Rezession 1982 Chile in die Wirtschaftskrise und das Volk in Hungersnot und Armut. In vielen chilenischen Städten wird mit Protesttagen und sogenannten „Hungermärschen“ demonstriert. Und das Regime antwortet hart und unerbittlich. Während der Protesttage werden 55 Menschen erschossen: Oppositionelle, Demonstrant*innen, Unbeteiligte. Anschließend werden etwa 100.000 Menschen festgenommen. In mitten dieser prekären Gesamtlage geht die junge Marcia mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder in die Grundschule. Was um sie herum geschieht, kann sie noch nicht wirklich einordnen. „So richtig begriffen, dass wir in einer Diktatur leben, habe ich erst mit 16 Jahren.“ Aber es gibt ihr dennoch das diffuse Gefühl, dass es gefährlich sein kann, offen eine Meinung zu vertreten oder laut Kritik zu üben.
Als sich die wirtschaftliche Lage ab 1983 entspannt, entspannt sich mit Rückschlägen auch das politische Klima im Land. 1987 dürfen schließlich politische Parteien wieder arbeiten. Und auch für Marcia Palma ist es eine besondere Zeit. Mit 13 Jahren und eigentlich katholisch lernt sie durch eine Jugendgruppe die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde in ihrem Heimatort kennen. Ein Ereignis, das ihre Zukunft entscheidend prägen wird.
Es ist zunächst die familiäre Atmosphäre, die sie besonders berührt. Hier spürt sie eine Geborgenheit, die sie aus der katholischen Kirche nicht kennt. Drei Jahre geht sie regelmäßig in die Jugendgruppe, bevor sie mit 16 Jahren anfängt, den örtlichen Pastor und andere Hauptamtliche bei ihrer Arbeit in Gottesdienst, Diakonie und Gruppenbetreuung zu unterstützen. Und dies ist auch die Zeit, wo ihr vor allem durch ihre Kirche klar wird, dass sie in einer Diktatur lebt. Denn die Kirche ist politisch hoch engagiert. Der Pastor setzt sich sehr für Politik, Menschenrechte und Flüchtlinge ein. Und er ist es auch, der ihr vorschlägt, Theologie zu studieren.
Palma ist 18 Jahre und fest überzeugt: „Ich bin zu jung dafür. Ich studiere lieber Chemie.“ Und das tut sie dann auch. Sie wird Chemikerin. Aber sie spürt dennoch eine Sehnsucht in sich, die sie selbst als „Unruhe“ beschreibt. Die Theologie, das geistliche Leben, lässt sie nicht los. „Die Tür zu diesem Weg war aufgestoßen und ich wusste, irgendwie würde ich mich dieser Frage nochmal stellen müssen.“
Und dieser Moment des „Sich-Stellen-Müssens“ kommt auf dramatische Art und Weise, als ihr Bruder 1999, eine schwere Herzkrankheit erleidet. Die lebenslustige junge Frau erlebt, wie ihr Bruder mit diesem schweren Schicksal umgeht und Trost und Halt in Jesus Christus findet. Er lässt ihn ganz dicht an sich heran und findet zu einer lebendigen Glaubensbeziehung. Auch wenn er sich natürlich körperliche Heilung wünscht, lässt er sich von Gott tragen, trösten und erlebt bis zu seinem Tod im Jahr 2000 große innere Freiheit. Und alle, die um ihn herum sind, bekommen es mit.
Das Glaubensvorbild ihres Bruders bewegt Marcia Palma sehr und weckt die alte „Unruhe“ in ihr wieder auf. Sie spürt, dass Christus auch ihr nah sein möchte. „Nach dieser Erfahrung habe ich dann gesagt: Gut, Gott! Vielleicht ist das eine Berufung.“ Obwohl sie scheinfrei ist, macht sie keinen Abschluss mehr in ihrem Aufbaustudium zur Umweltingenieurin. Stattdessen fängt sie 2002 an, zunächst in Chile Theologie zu studieren. Es ist insbesondere die Befreiungstheologie und später auch die feministische Theologie, die sie besonders bewegen. Vor allem ihre Professorinnen und Pastorinnen sind es, die sie diesbezüglich prägen und bis heute für sie Vorbilder sind. „Von ihnen habe ich gelernt, dass die Botschaft Jesu offen für alle und Glaube Vielfalt ist. Die Botschaft Jesu bringt uns Freiheit, Frieden und Versöhnung für alle. Gott liebt uns, so wie wir sind und wie wir leben.“
Trotz dieser starken weiblichen Vorbilder ist es auch für Marcia Palma nicht leicht, in Lateinamerika als Frau Theologie zu studieren. Immer noch prägt der Machismo das gesellschaftliche und damit auch das universitäre Leben. Und auch sie selbst muss nach den Jahren der Diktatur erst einmal den Mut entwickeln, als junge Theologiestudentin Dinge zu hinterfragen und ihre eigene kritische Stimme zu finden und zu nutzen. Hierbei hilft Palma auch, dass Stipendien ihr ermöglichen, ihr Studium in Deutschland und Argentinien fortzusetzen. Immer klarer wird ihr hierbei, dass ihr Herz für eine „Kirche der Vielfalt“ schlägt. „Für meine innere und äußere Befreiung war mir ganz wichtig, auch die gängigen Gottesbilder zu hinterfragen. Ich bete nicht zu Gott als Vater, sondern zu Gott als Gott des Lebens, als Vater und Mutter. Gott selbst ist doch schon Vielfalt“.
Als sie sich während ihrer Zeit in Buenos Aires in einen deutschen Mitstudenten verliebt, trifft sie eine weitere schwerwiegende Entscheidung. Gemeinsam mit ihrem Freund beschließt sie, sich ein Leben fern von Lateinamerika aufzubauen. 2014 kommt Marcia Palma nach Deutschland. Ihre Mutter ist nicht begeistert. Und auch ihren Wunsch, Pastorin zu werden, umzusetzen, macht diese Entscheidung zunächst nicht leichter. Sie arbeitet in den nächsten Jahren bei verschiedenen Kirchen und kirchlichen Trägern als theologische Mitarbeiterin. Bis sich im März 2020 endlich die Möglichkeit ergibt, bei der Evangelischen Landeskirche Hannovers das Vikariat zu beginnen.
Marcia Palma lebt nun schon einige Jahre in Deutschland. Sie hat hier ihren Platz gefunden, aber deutscher fühlt sie sich deshalb nicht. „Ich bin Latina“, sagt die Chilenin und richtet sich dabei mit funkelnden Augen sichtlich auf. Natürlich weiß sie, dass sie die nächsten Jahre im Vikariat viel lernen und sich auch anpassen muss. Aber als Pastorin würde sie gern, ihren kulturell anderen Hintergrund und ihre vielfältige Erfahrung nutzen, um die evangelische Kirche zu bereichern, unterschiedlichste Menschen einzuladen und andere liturgische Formen auszuprobieren. Und bei noch etwas ist Marcia Palma sich sicher: „Vielleicht wird eine Kirche der Vielfalt immer ein Traum bleiben, aber ich möchte meinen Teil dazu beitragen, dass sie vielleicht Realität werden kann.“