Startseite Archiv Tagesthema vom 18. November 2021

"Ich darf gar keinen Plan haben"

Der Bau der neuen Wasserstadt in Hannover verändert den Stadtteil Limmer rasant. Pastorin Dr. Rebekka Brouwer begleitet diesen Wandel mit – und beginnt damit, noch bevor die ersten Menschen in ihre neuen Wohnungen ziehen.

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Eigentlich fällt ein Bauwagen auf einer Baustelle nicht auf. In der Wasserstadt, einem der größten Baugebiete Hannovers, gibt es eine Ausnahme. Noch gehen auf dem, was irgendwann mal eine Hauptstraße sein will, vor allem Menschen spazieren. Sie ist von einer weitläufigen Brache umgeben. Doch an dieser Straße in spe steht auch ein bunt besprühter Bauwagen. In der Ferne sind im Westen ungenutzte ehemalige Fabrikgebäude des Reifenherstellers Continental zu sehen. Im Osten die ersten hochmodernen Mehrfamilienhäuser des wachsenden Viertels. Auf der Brache dazwischen sollen in vier weiteren Bauabschnitten noch zahlreiche neue Häuser entstehen. 3.500 Menschen werden auf der Fläche zwischen zwei Kanälen mitten im zugehörigen Stadtteil Limmer einmal zuhause sein. Die Einwohnerzahl des alten, teils dörflich geprägten Limmer wird damit sich damit fast verdoppeln. 

Der Bauwagen wird bald nicht mehr allein auf weiter Flur stehen: hier werden bald mehr als 3.000 Menschen zuziehen. Foto: Peter Meißner

Die Stadtteilentwicklung beschäftigt die bisherigen Bewohnerinnen und Bewohner in Limmer ebenso wie die künftigen – zu diesen zählt Pastorin Dr. Rebekka Brouwer, die vor einem Jahr ihre Arbeit hier begonnen hat. Der bunte Bauwagen ist Treffpunkt für alle Interessierten und „Wir in Limmer“ engagierten. Auf einer halben Projektstelle rund um die Wasserstadt spricht Brouwer mit Menschen, die in Limmer leben und leben wollen, mit Vertreterinnen und Vertretern von Vereinen, der Stadt und der Bauleitung. Außerdem möchte sie Engagierte aus dem alten Stadtteil Limmer mit denen aus der neuen Wasserstadt zusammenbringen. „Da entsteht was, da ist Leben drin, das ist mobil“, erklärt sie, warum sich die Projektbeteiligten für den Bauwagen als Ausgangspunkt ihrer Arbeit entschieden haben. 

Jugendliche haben den Bauwagen in einem der ersten Projekte besprüht. Tiere und Fantasiewesen sind darauf zu sehen, Namen und Wörter, eine Rasenlandschaft, Wolken und ein großer Erdball. Mit einer weiteren halben Stelle arbeitet Brouwer als Gemeindepastorin in der Kirchengemeinde St. Nikolai in Limmer. Am 1. November, ein Jahr nach Brouwers Dienstantritt, zogen die ersten Menschen in die Wasserstadt. 

Eine Animation zeigt, wie es in Limmer einmal aussehen soll. Bild: Peter Meißner

Unter dem Motto „Zeig mir dein Limmer“ hat die Pastorin in ihren ersten Wochen im Stadtteil zu Spaziergängen eingeladen. Die schönste Strecke für Kanufahrten und den besten Spielplatz kennt sie jetzt. Zugleich erfährt sie mit dieser Arbeit auch mehr über die Sorgen der Bürger*innen. „Ich habe mich gefreut, dass Menschen mir ihren Stadtteil gezeigt haben.“ 

Wenn einzelne Kirchengemeinden sich stärker im Stadtteil oder Dorf einbringen, würden oft auch benachbarte Gemeinden neugierig, sagt Meißner von der Initiative Gemeinwesendiakonie. Manche Gemeindemitglieder beschäftige aber auch die Frage, ob die Kirche durch ihre Öffnung ihr Profil verliere. Dabei interessierten sich gerade durch den Kontakt über gemeinwesenorientierte Projekte auch bislang eher Kirchenferne für geistliche Themen: „Häufig stellen sie zum Beispiel Fragen zum Thema Spiritualität.“ 

Michael Schneider vom Stadtkirchenverband sagt, er beobachte, dass junge Pastorinnen und Pastoren ihre Kirchengemeinden selbstverständlicher mit ihrer Umgebung vernetzten. Auch Brouwer sieht in ihrem Projekt in Limmer keinen Profilverlust ihrer Kirchengemeinde: „Wir werden gerade erst die Kirche, die wir sein wollen.“ Gerade auf ihrer kombinierten Stelle „geht beides miteinander“. Auch in der Projektarbeit trete sie „mit Rollenklarheit“ als Pastorin auf. Und im Logo des Netzwerks Wir in Limmer ist der Kirchturm von St. Nikolai zu sehen. 

Konkret beschäftigt die Menschen etwa, aus welchen gesellschaftlichen Schichten Leute in das entstehende Viertel ziehen. Und eine Bürgerinitiative diskutiert mit der Stadt Hannover über das Verkehrskonzept für die Wasserstadt. Im Netzwerk „Wir in Limmer“ treffen sich die lokalen Institutionen, Vereine und engagierten Limmeraner*innen des Stadtteils und planen gemeinsame Projekte. Die Kirchengemeinde ist hier fester Bestandteil und auch die Bürgerinitiative gehört mit zu Wir in Limmer“, unterstreicht sie.

Michael Schneider, im Stadtkirchenverband Hannover für Bau- und Quartiersentwicklung zuständig, Pastorin Rebekka Brouwer und Peter Meißner, der für die Landeskirche Hannovers die Initiative Gemeinwesendiakonie leitet. Im Hintergrund die Baukräne. Foto: Konstantin Klenke

„Wir sind als Kirche da, bevor die Leute hierherkommen, das ist in Hannover bislang einmalig“, sagt Pastor Michael Schneider. Er ist im Stadtkirchenverband Hannover für Bau- und Quartiersentwicklung zuständig. „Die Menschen könnten ja zur Kirche kommen, das tun sie aber oft nicht“, sagt er. Dafür begäben sich viele Kirchengemeinden stärker auf den Weg zu den Menschen, orientierten sich an deren individuellen Bedarf nach Begegnungen – das sei auch das Ziel des Projekts in Limmer. „Darin, dass wir das jetzt tun, liegen große Chancen“, betont Peter Meißner, der für die Landeskirche Hannovers die Initiative Gemeinwesendiakonie leitet. 

Diese Chancen spürt auch Pastorin Brouwer in Limmer: „Hier sind viele Menschen im Aufbruch.“ Die Neuankömmlinge wollten ihr Quartier mitgestalten. Zugleich mache sich der bestehende Stadtteil „aktiv Gedanken – natürlich auch aus Sorge“. Die Entwicklung des wachsenden Stadtteils möchte Brouwer begleiten: „Wir wollen an den Bedarfen der Menschen wachsen.“ 

Bei einer Bürgerversammlung wurden die Pläne vorgestellt. Bild: Peter Meißner

Auf landeskirchlicher Ebene will Meißner verschiedene Akteure im Netzwerk Gemeinwesendiakonie zusammenbringen. Dessen Mitglieder treffen sich regelmäßig digital. Von dem Forum „Kirche im Sozialraum,“ dem verschiedene Akteure aus kirchlichen Zusammenhängen angehören, ging der Impuls für einen Werkstatttag aus, bei dem Menschen aus unterschiedlichen Berufen sich über die Dorf- und Stadtentwicklung ausgetauscht haben. Innerhalb des Netzwerks könnten beispielsweise kirchliche und kommunale Beteiligte immer wieder voneinander lernen. 
Brouwer, Meißner und Schneider machen Mut, nicht nur auf Mitgliederzahlen und Finanzen zu blicken, sondern nach den aktuellen Bedarfen der Menschen zu fragen. Zeitlich begrenzte Projekte seien auch für Ehrenamtliche leichter umsetzbar, sagt Meißner. Zudem zeigten viele Projekte, das Geld auch mal den guten Ideen folgen könne. Viele dieser Ideen sind in Limmer schon jetzt Wirklichkeit geworden: Neben dem bemalten Bauwagen und den Spaziergängen organisiert Brouwer mit anderen Menschen Feierabendtreffs und Walkingrunden. Für Erwachsene wird es im Frühjahr einen Fotoworkshop, für Kinder ein Mitmach-Projekt, mit Gruppen und Kreisen, Vereinen, Institutionen aber auch Hausgemeinschaften plant sie einen lebendigen Adventskalender. Und wie soll die Projektarbeit in ein paar Jahren aussehen? „Dafür darf ich noch gar keinen Plan haben“, sagt Brouwer, „dann hätte ich meine Aufgabe hier nicht verstanden.“

Konstantin Klenke / Themenraum
In Limmer drehen sich die Baukräne. Bild: Peter Meißner