Startseite Archiv Tagesthema vom 01. November 2021

Ein Land, fünf Kirchen und 75 Jahre

Niedersachsen, Deutschlands zweitgrößtes Flächenland, feiert am 1. November sein 75-jähriges Bestehen - und eine große Vielfalt an protestantischen Landeskirchen.

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Mit einem großen Festakt hat das Bundesland Niedersachsen am Montag den 75. Jahrestag seiner Gründung gefeiert. Zu der Feier im Congress Centrum in Hannover kamen zahlreiche Gäste aus der Politik - darunter auch Altkanzler Gerhard Schröder und Altbundespräsident Christian Wulff, die beide auch Ministerpräsidenten des Bundeslandes waren. Neben Gästen aus der Politik waren auch mehrere hundert Menschen eingeladen, die sich ehrenamtlich engagieren.

Ministerpräsident Stephan Weil beim Festakt zum 75. Geburtstag des Bundeslandes. (Foto: Staatskanzlei / Hauke-Christian Dittrich)
Ministerpräsident Stephan Weil beim Festakt zum 75. Geburtstag des Bundeslandes. (Foto: Staatskanzlei / Hauke-Christian Dittrich)

Die Festrede hielt der Schriftsteller Navid Kermani. Er griff das Thema Afghanistan und den Sinn von Auslands-Einsätzen der Bundeswehr und des Westens auf. Die Gründung Niedersachsens sei durch eine Besatzungsmacht erfolgt, so Kermani. "Wir feiern heute den phänomenalen Erfolg einer militärischen Intervention." In Afghanistan sei jetzt zwar der Krieg beendet, aber anstatt dass etwas besser geworden wäre, sei nun auch das wenige Gute zunichte gemacht, was der westliche Einsatz ermöglicht habe, so Kermani. Auch künftig werde die Frage nicht verschwinden, ob der Westen, Europa oder ganz konkret die Bundeswehr militärisch in einen Konflikt eingreifen soll. "An einem Tag wie diesem, den fremde Soldaten für uns erkämpft haben, sollte man sich die Antwort nicht zu einfach machen", sagte Kermani. Es sei die Aufgabe der Politik, nach Lösungen zu suchen, wo eine Lage aussichtslos erscheint. "Wir können unseren eigenen Frieden und Wohlstand nicht bewahren, wenn in weiten Teilen der Welt Not herrscht", sagte Kermani.

Der Schriftsteller Dr. Navid Kermani hielt die Festrede beim 75. Landesgeburtstag. (Foto: Staatskanzlei / Hauke-Christian Dittrich)
Der Schriftsteller Dr. Navid Kermani hielt die Festrede beim 75. Landesgeburtstag. (Foto: Staatskanzlei / Hauke-Christian Dittrich)

Zuvor hatten am Vormittag in einem festlichen ökumenischen Gottesdienst in der Marktkirche rund 200 Repräsentanten aus Politik, Kirche, Religion und Gesellschaft auf die Gründung des Landes Niedersachsen vor 75 Jahren zurückgeblickt. Dabei rief der katholische Bischof Franz-Josef Bode aus Osnabrück zum gesellschaftlichen Zusammenhalt auf: Die Verantwortlichen des öffentlichen Lebens müssten für diejenigen Menschen eintreten, die am Rande stünden und in der Wohlstandsgesellschaft durch die Maschen fielen, sagte er.

Bischof Bode sagte, es gehe um eine "Zivilgesellschaft, in der Menschen in ihren Lebenslagen wahrgenommen werden und zum Handeln motiviert werden". Dafür setzten sich auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften ein. Der Vorstandsvorsitzende des Islam-Verbandes Schura Niedersachsen, Recep Bilgen, appellierte in einer interreligiösen Friedensbotschaft an alle Menschen, Hassreden ein Ende zu bereiten, weil diese Konflikte und sogar Kriege hervorrufen könnten. Er rief ebenso wie der Archimandrit Gerasimos Frangulakis von der griechisch-orthodoxen Kirche zum Einsatz für den Frieden auf.

Die liturgische Leitung des Gottesdienstes als Auftakt zu den Feierlichkeiten zum 75-jährigen Landesjubiläum hatte der Oldenburger Bischof Thomas Adomeit, der auch Ratsvorsitzender der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen ist. Die Kollekte war für das Grenzdurchgangslager Friedland bei Göttingen bestimmt, wo sich Diakonie und Caritas seit 1945 engagieren.

Der niedersächsische Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf (1893-1961) hatte im November 1946 mit Hilfe der britischen Besatzungsmacht die alten Länder Hannover, Braunschweig, Oldenburg und Schaumburg-Lippe zum Land Niedersachsen vereinigt. Die Bevölkerung wuchs in den 75 Jahren von 6,3 auf derzeit rund acht Millionen Menschen. Eine große lutherische Landeskirche in Niedersachsen, hoffte der SPD-Politiker in den Gründungsjahren, würde das neue Land spürbar stärken. Doch Kopf verrechnete sich: Die Kirchen wollten eigenständig bleiben. So spiegeln sich auf der kirchlichen Landkarte bis heute die Wurzeln des zweitgrößten deutschen Flächenlandes.

epd / Themenraum

Die Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen entstand 1971 und repräsentiert heute rund 3,3 Millionen Protestanten. Zu ihr gehören die vier evangelisch-lutherischen Landeskirchen Braunschweig (320.000 Mitglieder), Hannover (2,4 Millionen), Oldenburg (390.000) und Schaumburg-Lippe (48.000) sowie die Evangelisch-reformierte Kirche mit Sitz in Leer (165.000). Die fünf Kirchen haben sich zusammengeschlossen, um ihre Interessen gegenüber dem Land Niedersachsen gemeinsam zu vertreten und Gemeinschaftsaufgaben wahrzunehmen.

An der Spitze der Konföderation steht ein Rat, in dem jeweils ein leitender Theologe aus einer der Mitgliedskirchen den Vorsitz führt. Zurzeit ist dies der oldenburgische Bischof Thomas Adomeit. Die Geschäftsstelle der Konföderation befindet sich in Hannover.

Einrichtungen der Konföderation sind die Evangelische Erwachsenenbildung, der Kirchliche Dienst in Polizei und Zoll sowie die Publizistik mit dem Evangelischen Kirchenfunk Niedersachsen-Bremen (ekn) und dem Verband Evangelischer Publizistik Niedersachsen-Bremen, in denen auch die Bremische Evangelische Kirche Mitglied ist. Bevollmächtigte vertreten die Konföderation beim Landtag und in Schulangelegenheiten.

Die Konföderation hat gemeinsame Gesetze über das Mitarbeiterrecht und die Mitarbeitervertretungen verabschiedet, außerdem eine Prüfungsordnung für Theologen. Fragen des Dienstrechts für kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter regelt eine Arbeits- und Dienstrechtliche Kommission, paritätisch besetzt mit Vertretern von Arbeitnehmern und Dienststellen. Der Rechtshof der Konföderation ist ein eigenes kirchliches Verwaltungsgericht.

epd
Die Logos der fünf Landeskirchen auf dem Gebiet des Bundeslandes Niedersachsen.
Die Logos der fünf Landeskirchen auf dem Gebiet des Bundeslandes Niedersachsen.

"Große Aufgaben lassen sich nur im Miteinander lösen"

Fünf evangelische Landeskirchen mit zusammen rund 3,3 Millionen Mitgliedern bestehen noch weitgehend in den Grenzen der alten Fürstentümer. Aus Sicht des oldenburgischen Bischofs Thomas Adomeit arbeiten die Kirchen gut zusammen: "Guter und regelmäßiger Austausch schafft Gemeinschaft und lässt dabei regionale Differenzierung zu." Adomeit ist Ratsvorsitzender der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen, in der die Kirchen ihre Interessen miteinander abstimmen und sie gegenüber dem Land vertreten - in Schulfragen genauso wie beim Sonntagsschutz oder dem Kirchenasyl. "Vielfalt zu leben, ist gut evangelisch", unterstreicht der Bischof.

"Kein Bundesland hat eine vergleichbare Vielfalt vorzuweisen", sagt der Kirchenhistoriker Hans Otte aus Hannover. Die Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen entstand 1971 und repräsentiert heute rund 3,3 Millionen Protestanten. Zu ihr gehören die vier evangelisch-lutherischen Landeskirchen Braunschweig (320.000 Mitglieder), Hannover (2,4 Millionen), Oldenburg (390.000) und Schaumburg-Lippe (48.000) sowie die Evangelisch-reformierte Kirche mit Sitz in Leer (165.000).

In den vergangenen Jahrzehnten gab es immer wieder Versuche, die Kirchen zu vereinigen, doch sie verliefen allesamt im Sand. Stattdessen kamen sich die Kirchen in kleinen Schritten näher: 1955 regelten sie auf Initiative von Ministerpräsident Kopf im „Loccumer Vertrag“ ihre rechtlichen und finanziellen Beziehung zum Land Niedersachsen, und 1971 schlossen sie sich zur Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen zusammen. Ein Vorschlag, die Kirchen zu fusionieren, scheiterte 2009. Anfang des Jahres wurde die Konföderation 50 Jahre alt, doch wegen Corona konnte das Jubiläum nur intern gefeiert werden.

In den 75 Jahren seit der Landesgründung habe sich ein vertrauensvoller Umgang der Kirchen mit dem Land entwickelt, bilanziert Adomeit. Doch die Kirchen müssten ihre Stimme weiterhin erheben, auch bei unbequemen Themen: "Um die Welt zu einer besseren, lebenswerteren Welt zu machen, ist es unsere Verantwortung, den Finger in die Wunde zu legen, für die Schwächeren einzutreten." Wenn es um Flucht und Migration, Bildung, Armut oder Generationengerechtigkeit gehe, könne es auch einmal Streit geben. "Aber dabei können wir uns in die Augen sehen", betont der Bischof. "Das finde ich wichtig, denn große Aufgaben lassen sich nur im Miteinander lösen."

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Der Oldenburger Bischof Thomas Adomeit ist seit Januar 2021 Ratsvorsitzender der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen. Foto: Jörg Hemmen