"In der Mitte der Gesellschaft angekommen"
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Christian Bode ist Pastor, Geschäftsführer der Evangelischen Erwachsenenbildung Osnabrück und begleitet seit 2012 im Auftrag der EKD die deutsche Paralympics-Mannschaft. Die Wettkämpfe in Tokio ab dem 24. August werden die ersten sein, bei denen er nicht persönlich dabei sein kann, sondern digital als Seelsorger zur Verfügung steht.
Herr Bode, wie können Sie aus Osnabrück den Sportlerinnen und Sportlern in Tokio dennoch beistehen?
Bode: „Wir, das heißt meine katholische Kollegin Elisabeth Keilmann und ich, haben an die gesamte Mannschaft Türanhänger verschickt, wie man sie aus Hotels kennt: Statt „Bitte nicht stören“ stehen drauf: „Anklopfen erwünscht“, dazu ein kurzer Text und vor allem unsere Kontaktdaten. Wir stehen auf „standby“ und sind per Videokonferenz, Telefon oder Mail erreichbar. Tokio ist uns zeitlich sieben Stunden voraus – bei Bedarf stehen wir 24 Stunden zur Verfügung. Ansonsten können wir uns sicherlich auf eine für beide Seiten erträgliche Gesprächszeit einigen.
Und falls es ganz dringenden Notfall-Seelsorge-Bedarf vor Ort gibt, unterstützen uns der katholische Pfarrer und das evangelische Pastorenehepaar der deutschen Gemeinden in Tokio. Wir hoffen selbstverstänndlich, dass das nicht nötig sein wird.
Wer mag, kann mit einem kleinen geistlichen Impuls in jeden Tag starten, einem Bibelwort, einem Gedanken, einem Segen. Dieser tägliche Impuls wird erstmalig in die Team-App integriert, auf die alle im „Team D“ Zugriff haben. Und am 29. August feiern wir über Zoom einen Gottesdienst. Das alles ist immer in ökumenischer Zusammenarbeit.“
Die Japanische Bevölkerung war anfangs gegen die Spiele, wegen möglicher Corona-Infektionen – und es gibt bereits die ersten positiven Tests. Wie ist die Stimmung unter den deutschen Teilnehmenden?
Bode: „Aus Sicht der Sportlerinnen und Sportler ist es wichtig, dass die Spiele nun stattfinden – da stehen oft Jahre der Vorbereitung dahinter, Förderungen und Sponsoren, mit denen man weiterarbeiten will. Für jeden Teilnehmer und jede Teilnehmerin mögen die Paralympics auch unter den eingeschränkten Bedingungen eine großartige Lebenserfahrung werden. Das wünsche ich der gesamten paralympischen Familie.“
Bei den Olympischen Spielen haben die Deutschen ohne Beeinträchtigungen weniger Medaillen geholt, als erwartet. Ist der Druck auf Athletinnen und Athleten der Paralympics dadurch gewachsen?
Bode: „Das würde ich nicht direkt sagen, weil der Druck bei jedem Wettkampf ohnehin da ist. Den macht sich jede und jeder individuell. Nach so viel Trainingsfleiß und –schweiß möchte man sich jetzt beweisen und natürlich am liebsten mit einer Medaille belohnen. Der Deutsche Behindertensportverband vermittelt meiner Wahrnehmung nach ganz deutlich: ,Ihr seid ohnehin schon Gewinner, weil ihr die hohen Qualifikationsnormen geschafft habt, dabei seid und Deutschland und den Behindertensport repräsentiert!‘ Ich teile diese Einschätzung zu 100 Prozent!“
Wie sind Sie selbst zu den Paralympics gekommen?
Bode: „Mit 17 Jahren hatte ich meinen sportlichen Bekehrungsmoment: Ich dachte, ich würde an einem zweiwöchigen Tischtennis-Trainerkurs teilnehmen und nebenbei ein soziales Projekt mit Menschen mit Behinderung unterstützen, die auf den Rollstuhl angewiesen sind. Tatsächlich habe ich am ersten Abend vier der sieben Spiele gegen die „Rollis“ verloren. Mich hat beeindruckt, wie sie genau sagten, wann sie welche Hilfe wollten und uns klar vermittelten: Wir haben einen Mund und können schon selbst sagen, wann wir Unterstützung brauchen! So kam ich zum Para-Sport und war nach bewegenden Jahren im Jahr 2008 in Peking als Trainer der Deutschen Paralympischen Mannschaft dabei; noch in meiner Vikarszeit.“
In der Gesellschaft scheint langsam ein Wandel einzutreten, für mehr Inklusion und weniger Ableismus (Beurteilung von Menschen anhand ihrer Fähigkeiten, was als behindertenfeindlich angesehen wird). Wie hat sich aus Ihrer Sicht der Behindertensport in den letzten Jahren entwickelt?
Bode: „Der Blick auf die Menschen mit Grenzen hat sich verändert, die Gesellschaft ist aufmerksamer und sensibler geworden. Inklusion – ein großes Thema, für mich alternativlos. Jeder, der einen Kopf hat, kann mitmachen!
Unterwegs mit der Tischtennis-Nationalmannschaft haben wir sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht, manche Hotelzimmer mussten wir erstmal etwas umbauen, damit Rolli-Fahrende sich in ihren Zimmern bewegen konnten. Der Wendepunkt waren die Paralympics in Sydney 2000. Seither ist das öffentliche Interesse am Sport von Menschen mit Grenzen stets gewachsen. Die Qualität der Berichterstattung in den Medien hat sich gewandelt, im Fokus stand mehr und mehr der Sport und weniger die Behinderungen. Heute, so denke ich, ist der Behindertensport in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Auch bei den Prämien sind wir weiter: Für Gold bei den Paralympics gibt es die gleiche Prämie wie bei den Olympischen Spielen. Das war früher nur die Hälfte. Und die meisten Olympia-Trainingsstützpunkte sind mittlerweile auch für Menschen mit Grenzen geöffnet. Es hat sich vieles getan und viel professionalisiert - mit allen guten wie weniger guten Konsequenzen.“
Welches sind denn die weniger guten Konsequenzen?
Bode: „Die Kehrseite ist, dass der Druck und die Anforderungen höher geworden sind: Die Kriterien für die Förderung eines Athleten werden schärfer, die Suche nach Sponsoren und Förderern wichtiger, um oben mitzumischen muss man mittlerweile wenigstens Halb-Profi sein. Eine Medaille bedeutet da dann so viel - manchmal auch, ob der Traum vom Sport überhaupt weitergeht. Der olympische Gedanke ,Dabei sein ist alles!‘ tritt dabei bedauerlicherweise manchmal in den Hintergrund.
Landesbischof Ralf Meister hat übrigens vor einigen Jahren einen tollen Vorschlag gemacht: Warum führen wir den Medaillenspiegel der Olympioniken jetzt nicht mit den Paralympics einfach fort? Das finde ich einen super Gedanken.“
Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen?
Bode: „Ich wünsche mir, dass die Aufmerksamkeit für den Behindertensport weiter steigt. Im Moment liegt die Aufmerksamkeit immer noch zu stark auf Großereignissen wie den Paralympics, aber außerhalb dessen gibt es immer noch viel zu wenig Berichterstattung über den Sport von Menschen mit Grenzen.
Und darüber hinaus: Ich wünsche mir Menschen, die weniger in ,normal‘ und ,behindert‘ denken, sondern in Möglichkeiten und Grenzen. Das stellt den Menschen in den Mittelpunkt, ganz im Sinne unseres christlichen Menschenbildes, mit Worten von Richard von Weizäcker: ,Jeder Mensch ist anders, das ist normal!‘ Ich bin überzeugt davon: Als Kirche können wir hier einen großen Beitrag leisten.“