"Ich sehe eine gewisse Über-Pädagogisierung in der Schule"
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Nur touchieren, nicht einfach draufhauen - das ist das Besondere am Leichtkontakt-Boxen. Arwed Marquardt liebt den Sport und zeigt ihn auch Schülerinnen und Schülern im Rahmen von gebuchten Unterrichtsstunden. Seine Bedingung: es sollen Teilnehmende mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen dabei sein.
Herr Marquardt, Boxen, ohne sich wirklich zu treffen – wie geht das?
Marquardt: „Leichtkontakt-Boxen bedeutet, man touchiert sich nur leicht, nimmt die Härte und bisweilen martialische Symbolik aus dem Ganzen heraus. So spricht man auch von einem Match, nicht einem Kampf. Man verringert das Ungezügelte, aber die körperliche Anstrengung und die Techniken bleiben erhalten. Der Schlag selbst ist bereits ein aggressiver Akt, ja, aber mit der Methodik des Leichtkontakt-Boxens wird jegliche Brutalität ausgeschlossen. Impulskontrolle und Empathie sind die Stichworte. Es ist Fitness, Nervenkitzel und intensives Krafttraining zugleich.“
Sie gehen damit an Schulen. Wie reagieren die Kinder und Jugendlichen?
Marquardt: „Anfangs besteht bei den Kindern und Jugendlichen meist großes Interesse, aber wenn sie merken, dass es viel Ausdauer bedarf, um die gar nicht so einfachen Bewegungen und Techniken zu erlernen, gibt es auch Abbrüche. Vor allem dann, wenn Jugendliche merken, dass ihr Selbstbild nicht mit der Realität übereinstimmt, sie feststellen, dass es gar nicht so einfach ist.“
Sie verfolgen auch einen integrativen Ansatz – was meint das?
Marquardt: „In meinen eigenen Gruppen habe ich darauf geachtet, dass diese möglichst heterogen zusammengesetzt waren, das heißt Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen, damit habe ich gute Erfahrungen gemacht. Kinder und Jugendliche mit Auffälligkeiten im sozial-emotionalen Erleben können durchaus erreicht werden."
Man hat schon öfter gehört, dass Sport inklusiv wirke oder sozialisierend.
Marquardt: „Ja, aber der Boxsport ist kein Allheilmittel. Er ist nicht die Lösung für Verhaltensprobleme an Schulen. Das kann kein Sportangebot leisten - aber er kann helfen und ein Ansatz sein, Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Einige Beispiele: Ein Junge mit einer sogenannten Autismusspektrumstörung trainierte in einer meiner Gruppen. Nach einem Schulhalbjahr war er in der Lage, auf dem Marktplatz mitzumachen – die Blicke auszuhalten wäre vorher undenkbar gewesen. Oder ein halbseitig gelähmtes Mädchen, dass bis zur Erschöpfung trainierte, das war auch für die anderen beeindruckend zu sehen. Ebenso ein Junge mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung, der eifrig dabei war und sich traute, bei einem Treffen mehrerer Schulen in den Ring zu steigen. Er hat Standing Ovation aller anderen bekommen – das sind tolle Momente."
Sport gilt wie Kunst oder Religion manchmal als weniger wichtiges Nebenfach. Dabei lernt man dort doch wichtige Dinge wie Respekt, Fairness, Impulskontrolle...?
Marquardt: „Ja, ich sehe eine gewisse Über-Pädagogisierung in der Schule: Es gibt Regeln für jeden Kontakt, jede Rangelei ist verboten. Es gibt eine Lücke im pädagogisch-schulischen Denken, dass Körperlichkeit nämlich gar nicht auszuklammern ist aus Lern- und Bildungsprozessen. Wir lernen körperlich, über die Sinne, und es ist eine Herausforderung, dies pädagogisch umzusetzen. Das Boxen stellt den üblichen Blick auf Schule und Kinder in Frage.“
Heute werden Sie endlich offiziell am RPI eingeführt. Wie geht es für Sie weiter?
Marquardt: „Was meine weiteren Forschungsinteressen betrifft: Erst einmal werde ich am 1. Juli meine Antrittsvorlesung an der Leuphana Universität Lüneburg halten. Ich möchte darstellen, wie tief Ökonomisierung und Effizienzsteigerung aller Lebensbereiche auch in den Schulen Einzug gehalten haben und diese unter einem permanenten Stress stehen, effektiv sein zu müssen. Danach sehe ich weiter, wie ich meine Arbeit am RPI mit Forschungstätigkeit verbinden kann. Und ich boxe natürlich weiter – das ist meine Leidenschaft als Lehrer und Trainer."