„Alles entwickelt sich weiter – aber die Bildung unserer Kinder nicht?!“
Seit 1993 gilt das niedersächsische Kita-Gesetz. Für seine Novelle bekommt Kultusminister Grant Hendrik Tonne aktuell viel Kritik, auch aus evangelischen Kitas. Wir haben dort nachgefragt, wie das Gesetz die Praxis bestimmt und warum der vorgelegte neue Entwurf für tiefe Sorgenfalten sorgt.
Die Darstellung der Archivmeldungen wird kontinuierlich verbessert. Sollten Sie Fehler bemerken, kontaktieren Sie uns gerne über support@systeme-e.de
„Mein erster Gedanke war: Das kann nicht wahr sein. Das kann einfach nicht ernst gemeint sein.“ Bei Petra Schlemermeyer bilden sich Sorgenfalten, wenn sie auf den Entwurf für das neue niedersächsische Kita-Gesetz (NKitaG) blickt. „Wenn es tatsächlich so kommt, wie es jetzt der Entwurf vorsieht, ist es ein echter Rückschlag.“ Die Kita-Leiterin aus Nienburg hatte, wie viele Erzieherinnen und Erzieher, Hoffnungen in das neue Gesetz gesetzt – und ist nun enttäuscht: „Das aktuelle Kita-Gesetz wurde 1993 verabschiedet, damals war ich in der Ausbildung. Wenn das neue nun in dieser Art verabschiedet wird, wird es vermutlich wieder für 20 Jahre gelten. Dann hätte sich 50 Jahre lang - in meiner gesamten beruflichen Zeit - nichts geändert. Und das kann einfach nicht sein.“
Das Kita-Gesetz regelt unter anderem die Finanzierung, die Qualitätsstandads und den Personalschlüssel. Derzeit sind zwei Erzieher:innen für bis zu 25 Kinder vorgesehen, eine dritte Kraft pro Gruppe war – so der Eindruck an der Basis – versprochen. Doch in der Novelle ist davon keine Rede. „Stattdessen soll die bestehende Regelung noch aufgeweicht werden: statt zwei Fachkräften reicht dann eine Fachkraft, zusammen mit einer pädagogischen Assistenzkraft“, betont Schlemermeyer.
Was das in der Praxis bedeutet, beschreibt Cornelia Feske, die die Kita in Holtorf leitet. Früher seien die meisten Kinder mit vier oder fünf Jahren in die Kita gekommen, „jetzt kommen sie oft schon mit drei Jahren in den Kindergarten, weil beide Eltern berufstätig sind. Das kann ich gut verstehen – es bedeutet aber, dass es in jeder Gruppe Wickelkinder gibt. Wenn also eine Erzieherin wickelt, ist die andere Fachkraft mit den anderen bis zu 24 Kindern allein.“ Auch die Arbeitszeiten für Erzieher:innen würden im neuen Gesetz nicht berücksichtigt: statt nur von 8 bis 12 Uhr seien viele Kinder mittlerweile ganztags von 6.45 bis 17 Uhr in der Kita. Diese intensivere Betreuung werde nicht honoriert.
Die beiden Kita-Leiterinnen sind mit ihren Sorgen nicht allein: Die Gewerkschaft ver.di, die katholische Kirche, die Freie Wohlfahrtspflege und die Landes-Arbeitsgemeinschaft der Elterninitiativen haben ebenfalls öffentlich ihre Kritik an der Novelle verkündet. Gleiches gilt für die evangelisch-lutherische Kirche, die zu den größten Kita-Trägern in Niedersachsen zählt. Rund 1.000 evangelische Kitas werden über ihr Diakonisches Werk koordiniert, dessen Leitung dringende Nachbesserungen vorschlägt.
Die Aufgaben der Erziehenden hätten sich seit der letzten Gesetzesnovelle sehr geändert, betonen die beiden Pädagoginnen, es gebe etwa einen höheren individuellen Förderbedarf. „Es gibt mehr Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, die Kinder sind wesentlich aufgeweckter als früher“, sagt Feske. Und Schlemermeyer ergänzt: „Da sind pro Gruppe 25 Kinder, die einfach spielen wollen und die natürlich auch Geräusche, Lärm, machen. Wobei wir alle aber wissen: Lärm ist Stress und Stress macht krank. Und eigentlich bräuchten Kinder auch mal einen Ruheraum, einen Rückzugsort im Kindergarten – davon lese ich nichts in dem neuen Gesetz.“
Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) verteidigt laut epd seinen Entwurf: wegen des Fachkräftemangels könne das Ziel einer dritten Kraft pro Gruppe derzeit nicht umgesetzt werden; das Gesetz solle keine leeren Versprechungen enthalten. Ein Stufenplan zur Einführung einer dritten Fachkraft werde Gegenstand eines begleitenden Antrags sein.
Für die Kita-Leiterinnen ist das kaum ein Trost: „Das neue Gesetz orientiert sich überhaupt nicht an der heute zu leistenden pädagogischen Arbeit“, erklärt Schlemermeyer. „Wir brauchen Zeit, in der wir Gruppenarbeit vor- und nachbereiten, die Entwicklung der Kinder dokumentieren und mit den Eltern sprechen, jeden Morgen und Nachmittag an der Tür und aber auch mal ausführlicher. Für all das teilen sich zum Teil vier Kräfte nur 7,5 Stunden, das reicht bei weitem nicht aus. Fachliteratur lesen, um sich weiterzubilden, und Projekte entwickeln – das machen meine Mitarbeitenden schon jetzt oft in ihrer Freizeit. Das System ist am Limit.“ Das Wissen über frühkindliche Bildung bereichere den Alltag nicht derart, wie es möglich wäre. „Alles entwickelt sich weiter, ob Autoindustrie oder Medizin – nicht aber die Betreuung unserer Kinder.“
„Wenn diese Aufgaben und auch die Ausbildung nicht bald angemessen bezahlt werden, werden wir ein Riesenproblem bekommen, junge Menschen für diesen Beruf zu begeistern“, warnt Feske. „Es wird gesagt, Kinder seien das Wichtigste und unsere Zukunft – warum handeln wir nicht danach?“
Der Gesetzes-Entwurf wurde vom Landtag in den Kultusausschuss überwiesen und soll dort beraten werden. Voraussichtlich im Sommer soll das Gesetz verabschiedet werden.
Christine Warnecke / Themenraum