"Als Christ bin ich ein Hoffnungsmensch"
Landesbischof Ralf Meister (59) steht seit genau zehn Jahren an der Spitze der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, der größten evangelischen Landeskirche in Deutschland. Am 26. März 2011 wurde er in der Marktkirche in Hannover in sein Amt eingeführt.
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epd: Herr Meister, als Sie vor zehn Jahren Ihr neues Amt antraten, wollten Sie unbedingt auf den Brocken im Harz klettern, um Niedersachsen von oben zu sehen. Waren Sie inzwischen oben?
Meister: Natürlich bin ich oben gewesen. Damals hatte ich noch die Illusion, dass der Gipfel diesen Blick ermöglicht und dass er zu unserer Landeskirche gehört. In Wirklichkeit liegt er ja knapp außerhalb. Da oben ging es mir wie 90 Prozent der Besucherinnen und Besucher: Es war Nebel.
epd: Kommen Sie sich manchmal vor wie ein Konzernchef?
Meister: Nein, überhaupt nicht. Auch wenn die Kirche zu den größten Arbeitgebern gehört, kann man sie nicht ohne weiteres mit einem Unternehmen vergleichen. Ich kenne kein Unternehmen, welches aus einem Auftrag entstanden ist, den es sich nicht selbst gegeben hat. Ursprung und Ziel der Kirche liegen nicht in der Hand des Menschen. "Die Kirche ist die Improvisation des Geistes" hat ein katholischer Theologe es einmal genannt. Und diesem Geist dienen wir. Und in diesem Dienst ist ein Bischof kein Chef, sondern ein Christ in der Nachfolge, genau wie jedes andere Mitglied unserer Kirche.
epd: Wie lässt sich eine so große Organisation wie die Landeskirche wirkungsvoll steuern und zusammenhalten?
Meister: Zusammenhalt gelingt durch die große verbindende Geschichte, dass Gott es mit dem Menschen zu tun haben will. Er sucht uns Menschen. Der christliche Glaube antwortet auf diese Suche. So schafft die Kirche Möglichkeiten, dass Menschen mit Gott in Kontakt kommen, in Kirchengemeinden, der Diakonie, in Kitas und der evangelischen Jugend. Die Arbeit an einer Kultur der Barmherzigkeit dient diesem Zusammenhalt ebenso wie die seelsorgerliche Begleitung in Sinnkrisen oder die mahnende Stimme für den Erhalt der Schöpfung. Eine Kirche als zivilgesellschaftliche Organisation ohne Gottesbezug ist tot.
epd: Die hannoversche Landeskirche zählt 1.235 Gemeinden, das geht bis nach Ostfriesland. Wie viele davon haben Sie in den zehn Jahren besucht?
Meister: Momentan verteile ich Osterkerzen in vielen Kirchen - dabei habe in den vergangenen Wochen mehr als 120 Gemeinden besucht. Jeweils nur für 15 oder 20 Minuten. Aber diese Begegnung waren unglaublich intensiv - soweit das mit den Abstandsregeln geht. Dabei treffe ich Menschen, die in den vergangenen zwölf Monaten mit großem Einsatz in ihren Kirchengemeinden gewirkt haben. Ich will es vorsichtig formulieren: Diese Begegnungen zeigen mir, dass diese Pandemie auch spirituelle Erfahrungen ausgelöst hat: Die Suche nach dem, was wir wirklich brauchen, die Frage nach den Quellen unseres Trostes, und die Einsicht, wie sehr wir angewiesen sind, Schmerz und Verlust gemeinsam vor Gott zu legen.
Am Anfang meiner Amtszeit habe ich alle damals über 50 Kirchenkreise besucht. Insgesamt habe ich wahrscheinlich von 300 bis 400 Kanzeln gepredigt. In allen Kirchen der Landeskirche werde ich das wahrscheinlich nicht mehr schaffen - leider. Denn ich erlebe, dass diese Besuche als große Wertschätzung und Ermutigung wahrgenommen werden. Geistliche Leitung bedeutet für mich, Kirche in der Gemeinschaft mit anderen erleben und zu gestalten. Der Austausch und die Begegnung mit den Geschwistern vor Ort ist grundlegend für dieses Amt.
epd: Immer mehr Menschen wenden sich von der Kirche ab. Was kann die Kirche tun, um sie wieder zurückzugewinnen?
Meister: Wir lernen, dass wir eingeübte, vermeintlich zukunftsfähige Denkmuster zunehmend infrage stellen. Dieses Feld ist weit. Wie erklären wir unseren Glauben ganz elementar? Kirchenlieder und Psalmen, die unsere Großeltern und Eltern ihr Leben lang begleitet haben, sind für unsere Kinder häufig kein tragendes Gut mehr. Wie bleiben wir hilfreich für den sinnsuchenden Menschen, wie stärkend und hoffnungsstiftend in gesellschaftlichen Krisenzeiten, wie wir sie jetzt in der Pandemiezeit haben? Kirche bleibt nur dann Kirche, wenn sie sich weder vollständig in weltlichen Fragen auflöst, noch wenn sie sich vollständig von der Welt trennt. Der Trost, so erleben wir zurzeit, ergibt sich nicht nur aus dem Leben selbst. Wir brauchen eine Quelle, die uns über die Bedrängnis und Erschöpfung der aktuellen Pandemie-Einschränkungen hinausträgt. Ostern öffnet den Horizont über die aktuelle Lebenswirklichkeit hinweg. "Ich bin das Licht der Welt": Diese Verheißung Jesu trägt mich auch durch finstere Zeiten.
epd: Während Ihrer Amtszeit wurde der Reformationstag zum gesetzlichen Feiertag in Norddeutschland. Ein Erfolg für die evangelische Kirche?
Meister: Das ist keine Auszeichnung für die Kirchen der Reformation, sondern eine fortdauernde Herausforderung für sie. Wir müssen den christlichen Glauben und unseren Auftrag so verbindend und verantwortungsvoll gestalten, dass keine andere Religion und kein Agnostiker sich von einem Reformationstag ausgeschlossen, vereinnahmt oder instrumentalisiert sieht. Der Reformationstag ist der Ort, um darüber nachzudenken, wie wir verantwortlich unsere Gesellschaft gestalten und welche Rolle darin die Gottesfrage spielt.
epd: Vor einiger Zeit haben Sie eine Flüchtlingsfamilie in ihrer Bischofskanzlei aufgenommen. Warum?
Meister: Weil es notwendig war. Wir hatten Wohnraum, und der war frei. Den mussten wir zur Verfügung stellen. Das war für meine Familie und mich und für das Team in der Bischofskanzlei eine Selbstverständlichkeit. Dabei wissen wir, dass diese Möglichkeit nicht beispielhaft sein kann, weil wir sehr privilegiert leben. Diese jesidische Familie, die aus dem Nordirak kommt, lebt seit fast fünf Jahren in unserem Haus.
epd: Sie zeigen immer wieder Sympathie für die Jugendlichen von "Fridays for Future". Was bewegt Sie dabei?
Meister: Wie schaut die folgende Generation auf die Kirche? Wie sieht sie die zentralen Herausforderungen unserer Welt? Und: Hat die Frage nach Gott noch eine Bedeutung für die Beantwortung der großen Fragen? Die Kirche hatte eine Verantwortung in der einseitigen, falschen Auslegung der Bibel, die die bedenkenlose Ausbeutung der Schöpfung beförderte. Nun haben wir die Verantwortung alles zu tun, diesen Weg zu korrigieren.
epd: Sie haben sich auch in einer Kommission für die Suche nach einem Atommüll-Endlager engagiert und halten Hühner in Ihrem Bischofsgarten. Würden Sie sich als "grünen Bischof" bezeichnen lassen?
Meister: Grün ist die Farbe der Hoffnung. Und als Christ bin ich ein Hoffnungsmensch, also grün. Ich glaube, dass die intensive Auseinandersetzung, wie wir verantwortlich mit der Schöpfung umgehen, heute die Aufgabe für jeden Menschen ist. Besonders wichtig ist sie, wenn man mitverantwortlich ist für die Meinungsbildung oder für die Motivation anderer Menschen, wie ich es in meinem Amt als leitender Geistlicher bin. Gott hat eine Zukunft mit uns Menschen und dieser Erde. Wir müssen unseren Teil dazu tun, dass unser Planet zukünftig ein Ort sein wird, in dem der Mensch im "Schalom" mit der Schöpfung leben kann. Und diese Aufgabe duldet keine Verzögerung.
epd-Landesdienst Niedersachsen-Bremen (Michael Grau)