Startseite Archiv Tagesthema vom 23. März 2021

"Orangensaft in einer Kakaopackung"

Bis sie neun war, hieß sie Paul. Paula ist transident: ein Mädchen, geboren in einem Jungenkörper. Für ihre Familie war es ein langer Prozess, gemeinsam damit umzugehen. Doch sie steht hinter ihr. Auch ein kirchlicher Jugendtreff gibt ihr Rückhalt.

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In das graue Sofa gekuschelt scrollen Paula Rodler und ihr Vater Kai auf dem Tablet durch alte Fotos. Ein blonder Junge ist zu sehen. Die Schultüte in seinem Arm ist fast größer als er selbst. Kai Rodler beugt sich zu ihm hinab - stolz am ersten Schultag. Das Bild zeigt Paula, als sie noch Paul hieß. Paula ist transgeschlechtlich, ein Mädchen, geboren in einem Jungenkörper. Inzwischen trägt sie ihr Haar lang und an diesem Tag ein Kleid und Leggins. "Ich wusste schon immer, dass irgendwas mit mir nicht richtig war", sagt die 13-Jährige aus Elze bei Hildesheim. "Ich war halt Orangensaft in einer Kakaopackung. In einer Zwangsjacke gefesselt."

Paula ist neun, als sie sich der Lebensgefährtin des Vaters anvertraut. Schon lange fühlt sie sich "komisch" in ihrem Körper, sucht nach Erklärungen. "Ich war verunsichert, weil ich niemanden kannte, der so ist wie ich", berichtet sie. Auch die Angst, den Papa oder den Bruder zu verletzen, beschäftigte sie. Als Vater einen Sohn zu verlieren und dann noch den Erstgeborenen, sei nicht leicht. "Für meinen Vater war das wie ein Schlag ins Gesicht." Der zwei Jahre jüngere Max fasst in Worte, was zunächst in ihm vorging: "Ich hab einen Bruder verloren, den ich sieben Jahre so gekannt habe."

Doch die Akzeptanz und der Rückhalt in der Familie wachsen - auch bei Paulas Entscheidung, später eine Hormonbehandlung machen zu wollen und sich operieren zu lassen, um inneres und äußeres Geschlecht in Einklang zu bringen. "Es hat sich ja nicht wirklich was geändert", sagt sie. "Ich bin halt noch die gleiche Person." Doch sie kennt auch Jugendliche, denen es anders geht.

Paula Rodler in ihrem Zimmer. Bild: epd-bild/Carsten Kalaschnikow

Eine gesellschaftliche Umwelt, in der es nach wie vor als Norm gelte, heterosexuell zu sein und die bei der Geburt festgelegte geschlechtliche Zugehörigkeit nicht zu hinterfragen, erschwere es Kindern und Jugendlichen, im Heranwachsen ihre Orientierung zu finden, sagt Nora Gaupp vom Deutschen Jugendinstitut. Das Institut in München erforscht seit Jahren die Lebenswelt von "LSBT*Q Jugendlichen", also Jugendlichen, die lesbisch, schwul, bisexuell, "trans*" oder - verallgemeinert - queer sind. Viele von ihnen erlebten nach dem "inneren Coming-out" oft mehrere Jahre lang eine schwere Zeit, in der sie mit niemandem über ihre Gefühle redeten, sagt Gaupp. Sie fürchteten, von Freunden und der Familie abgelehnt zu werden, wenn sie sich nach außen offenbarten.

Auch Paula hat "wirklich exzessives Mobbing" erlebt, wie sie erzählt. Vor einem halben Jahr wechselte sie die Schule, und vieles änderte sich zum Guten. Rückhalt und "ein zweites Zuhause" hat sie zudem im "AndersRoom", einem queeren Jugendtreff der evangelischen Kirche in Laatzen bei Hannover. Der Diakon Gunnar Ahlborn eröffnete den Treff 2019 als Reaktion auf die Ausgrenzung eines 14-Jährigen, der sich als homosexuell geoutet hatte. Ahlborn kam hinzu, als der Junge auf dem Schulhof von anderen angegangen wurde. "Wir brauchen einen Ort, an dem er und andere so sein können, wie sie möchten", sagt er.

Laut Auswertung des Deutschen Jugendinstitutes gab es 2016 in Deutschland gerade mal 20 Jugendzentren, die sich speziell an queere Jugendliche wandten. Die meisten LSBT*Q-Jugendgruppen trafen sich eher informell ohne institutionellen Rahmen. Ahlborn fand bei der Kirche gleich ein positives Echo, als er den "AndersRoom" plante, wie er erzählt. Bis zu 50 Jugendliche besuchten den Treff, bis es zu den Corona-Einschränkungen kam. Der "AndersRoom" biete auch einen geschützten Raum für diejenigen, die sich ein Coming-out noch nicht trauten, sagt Ahlborn. "Hier muss sich niemand ständig erklären."

Paula Rodler sieht sich mit ihrem Vater ein Bild von der Einschulung an, als sie noch ,Paul' war. Bild: epd-bild/Carsten Kalaschnikow

Paula kam mit zwölf das erste Mal in die Gruppe, die eigentlich erst ab 14 Jahren offen ist. Doch sie fühlte sich gleich wohl. Dort werde sie nicht wie in der Schule gefragt, was trans eigentlich bedeute oder wie Hormonblocker wirkten, sagt sie. "Das ist denen im AndersRoom gar nicht mehr so neu. Da fragt man Sachen wie 'Wie geht's dir?', 'Was machst du zu Hause?'".

Zu Paulas Weg gehört auch, dass sie pubertätshemmende Mittel nimmt und in ein, zwei Jahren endgültig entscheiden muss, ob sie das weibliche Sexualhormon Östrogen nehmen möchte. Sie ist bei einer Psychologin und dem Hamburger Kinder-Endokrinologen Achim Wüsthoff in Behandlung, der viel Erfahrung mit Transgender-Kindern hat. Auch Vater Kai Rodler gibt das mehr Sicherheit. Er habe sich vorher viele Fragen gestellt, sagt er. Ist der Wunsch, ein Mädchen zu sein, nur eine Laune, oder eine Behandlung richtig? Paula aber war nach der ersten Fahrt nach Hamburg klar: "Jetzt kann ich so sein, wie ich bin. Ich bin richtig."

Karen Miether / epd
Paula Rodler mit ihrem Vater Kai und dem zwei Jahre jüngeren Bruder Max. Bild: epd-bild/Carsten Kalaschnikow

Transidente Menschen

Als trans* (transident, transsexuell, transgender) bezeichnen sich Menschen, die sich nicht - oder nicht nur - mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Das Spektrum sei breit, sagt Petra Weitzel von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti). Es reiche von Menschen, die ihre Geschlechtsrolle nur sozial wechselten, bis hin zu solchen, die einige oder alle möglichen geschlechtsangleichenden medizinischen Maßnahmen in Anspruch nähmen und ihr eigentliches Geschlecht rechtlich anerkennen ließen.

Wie viele es in Deutschland gibt, ist nicht erfasst. Laut Studien des amerikanischen "Williams Institute" und "Gallup" definieren sich in den USA knapp 0,6 Prozent der Erwachsenen als "transgender". Wendet man einen solchen Bevölkerungsanteil auf Deutschland an, ergibt das nach Berechnungen der dgti entsprechend rund 480.000 Menschen.

Anhaltspunkte bieten daneben die Zahlen über die Anträge zur Vornamens- und Personenstandsänderung nach dem Transsexuellengesetz. Nach Angaben des Bundesjustizamtes waren dies in den Jahren 1991 bis 2019 insgesamt 29.549 Verfahren. Anteilig machte die Zahl derer, die 2019 einen Antrag nach diesem Gesetz gestellt haben, 0,32 Prozent des Geburtenjahrgangs aus, erläutert die dgti-Vorsitzende Weitzel.

Dabei sind die Menschen nicht eingerechnet, die sich nicht in eines der Geschlechter männlich oder weiblich einordnen. Sie konnten bis zu einem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 22. April 2020 keinen Antrag nach diesem Gesetz stellen. Das Transsexuellengesetz steht zudem erst seit 2011 auch Personen offen, die keine medizinischen geschlechtsangleichenden Maßnahmen brauchen.

Weitzel zufolge gibt es zudem noch eine sehr hohe Dunkelziffer von trans* Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nie ein Verfahren nach dem Transsexuellengesetz angestrebt haben. Abschreckend sei zum Beispiel, dass für ein Verfahren nach wie vor zwei teure psychiatrische Gutachten nötig seien. Lobbyverbände wie die dgti sehen darin eine Diskriminierung und Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes. 

Bild: epd-bild/Carsten Kalaschnikow