"Das ist noch lange kein Frieden"
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Schwere Artillerie zerstört Wohnhäuser, es gibt Tote und Verletzte, tausende Menschen fliehen – in der Region Bergkarabach ist ein Krieg ausgebrochen, quasi vor Europas Haustür. Fünf Wochen lang kämpften Armenien und Aserbaidschan gegeneinander – nun wurde ein von Russland vermitteltes Abkommen unterzeichnet, wodurch die Kampfhandlungen enden sollen. In der armenischen Hauptstadt gab es dagegen zwar Proteste und der Präsident bezeichnete die Erklärung als „schmerzhaft“ – doch anders als bei vorherigen Abkommen könnte es dieses Mal funktionieren.
Alles auf gutem Weg, also? Nein, sagt Christopher Selbach, der Referatsleiter für Europa und Zentralasien bei Brot für die Welt. Er hat selbst mehrere Jahre im Kaukasus gelebt. Brot für die Welt setzt sich über lokale Partner für Frieden in der Region ein. Im Interview beschreibt Selbach, wie Friedensarbeit trotz Kriegs und Corona-Pandemie aussehen kann und dass er immerhin einen kleinen Hoffnungsschimmer sieht.
Herr Selbach, Sie beschäftigen sich täglich auch mit der Lage in Bergkarabach. Hat sich mit dem Abkommen jetzt die Situation entspannt?
Selbach: „Die gute Nachricht ist: Zumindest scheinen die Waffen zu schweigen. Wir haben in den letzten Wochen die schlimmste Eskalation seit Jahrzehnten erlebt – das war Krieg. Beide Seiten werfen sich vor, auch zivile Ziele ins Auge gefasst zu haben. Laut Medienberichten sind 100.000 Menschen geflüchtet. Daher ist der Waffenstillstand ein wichtiger erster Schritt. Doch der grundsätzliche Konflikt und die damit verbundenen Probleme sind natürlich noch nicht gelöst. Der Konflikt dauert schon Jahrzehnte an und ist sehr mit der Identität beider Nationen verbunden, er ist zentral für das Selbstverständnis auf beiden Seiten. Schon dadurch ist eine Lösung nicht einfach. Die Gewalteskalation der letzten Wochen hat nun die bestehenden Gräben noch einmal vertieft und auch in unseren Friedensprojekten viel zerstört, was mühsam aufgebaut wurde.“
Wie können die Partner von Brot für die Welt aktuell überhaupt dort arbeiten?
Selbach: „Nur eingeschränkt: Bergkarabach gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, wird aber von Armeniern beansprucht. Da die Region der Kern des Konfliktes ist, fördert Brot für die Welt dort nicht direkt. Außerdem dürfen zivilgesellschaftliche Akteure in Aserbaidschan kaum Hilfe aus dem Ausland annehmen, weil der Staat das streng reglementiert. Außerdem sind wegen Corona Workshops und Seminare derzeit kaum möglich, besonders Armenien ist stark von der Pandemie betroffen. Und jetzt kommt noch der aufgeflammte Krieg dazu. In Armenien kennt beinahe jeder jemanden, der in die Armee eingezogen wurde, Angehörige verloren hat oder Geflüchtete aufnimmt. Dennoch geht die Arbeit unserer Partner weiter.“
Welche Arbeit läuft denn jetzt noch?
Selbach: „Ein Großteil der Projekte unserer Partner dreht sich um die Ernährungssicherheit und ländliche Entwicklung. Das sind etwa Projekte mit Kleinbauern, in denen es um die Erhöhung der Ernteerträge oder den Umgang mit Handelspartnern geht. Die Projektpartner mussten sich zwar aufgrund der Corona-Pandemie umstellen und persönliche Kontakte stark einschränken, sind aber nicht direkt von den Kampfhandlungen betroffen. Jedoch kommen auch in den Regionen, in denen unsere Partner tätig sind, Menschen an, die aus Bergkarabach geflüchtet sind. Unsere Partnerorganisationen leisten Nothilfe und versuchen sie mit dem Nötigsten zu versorgen. Dann unterstützen wir noch Projekte zur Friedensbildung. Sie basieren auf persönlichen Kontakten, daher ist in diesem Bereich vieles gerade nicht möglich – aufgrund von Corona und der militärischen Eskalation.“
Worum geht es im Normalfall in den Friedensbildungsseminaren?
Selbach: „Solche Projekte leben vom persönlichen Austausch. Es geht darum, Menschen zusammenzubringen, die normalerweise auf unterschiedlichen Seiten des Konfliktes stehen. Zum Beispiel gibt es Sommercamps für Jugendliche aus dem gesamten Kaukasus. Auf diese Weise haben die jungen Menschen häufig erstmals persönlichen Kontakt zu Gleichaltrigen aus dem anderen Land. In einem Medienprojekt werden Journalist*innen in Konfliktsensibilität geschult. Das Ziel ist, eine Berichterstattung zu fördern, die weniger auf Konfrontation und stärker auf Verständigung setzt. Auch in diesem Rahmen sollten armenische und aserbaidschanische Journalist*innen zusammenkommen – auf neutralem Boden in Georgien. Aufgrund der Situation ist das aktuell leider undenkbar.“
Wie viel kann die Friedensarbeit unter diesen Umständen bewirken?
Selbach: „Die Umstände sind schwierig - aber ich denke, dass diese Arbeit umso notwendiger ist. Die Politik kann und sollte Grenzen ziehen und Linien vorgeben, aber wenn die Gesellschaft sie nicht achtet und akzeptiert, wird es nicht funktionieren. Wir sehen das schon jetzt an den Unruhen in Armenien – die Einstellung der Kämpfe gilt vielen dort als inakzeptable Kapitulation. Es kommt also auf jede und jeden Einzelnen an. Wir möchten daher den Menschen überhaupt die Möglichkeit geben, die Situation von unterschiedlichen Perspektiven zu sehen, die eigenen Interessen und die der anderen Seite zu verstehen und konstruktiv mit ihnen umzugehen.“
Zum Teil ist zu lesen, es sei auch ein Konflikt zwischen dem christlich-orthodoxen Armenien und dem muslimischen Aserbaidschan. Welche Rolle spielen die Kirchen?
Selbach: „Die religiösen Führer aus Aserbaidschan und Armenien haben immer wieder für Frieden geworben und durchaus untereinander den Austausch gesucht. Leider ist das im Moment nicht zu sehen, sie scheinen von den aktuellen Ereignissen überrascht und in politischen Zwängen gefangen. Der Konflikt ist aber eigentlich kein religiöser. Es ist eher so, dass die Religion aufgegriffen wird, um die Leute zu verorten, aber das geschieht von außen.“
Auf den ersten Blick könnte man zugespitzt fragen: Ein paar Jugendliche und ein paar Journalisten, die sich austauschen und dann wieder ihrer Wege gehen - sind das nicht Tropfen auf den heißen Stein?
Selbach: „Es sind natürlich sehr kleine und mühsame Schritte. Aber wir sehen nur diesen Weg – dass die Menschen ihre persönliche Einstellung überdenken und dann in die Gesellschaft hineinwirken. Die aktuellen Entwicklungen sind dafür natürlich harte Rückschläge. Vor kurzem habe ich mit einer Frau gesprochen, die schon länger mit Jugendlichen aus Aserbaidschan und Armenien arbeitet. In ihren Workshops lernen sie, daheim kleine Filmfestivals zu organisieren, die den Umgang mit Konflikten thematisieren und auf diese Weise Diskussionen anstoßen. Sie hat eindrücklich erzählt, dass Leute, die in den Diskussionen aufgeschlossen schienen, sich angesichts der neuen Gewalt wieder zurückziehen. Die Fronten und Meinungen verhärten sich wieder.“
Wie stehen aus Ihrer Sicht die Chancen auf Frieden?
Selbach: „Wir haben nun einen Waffenstillstand, der von Russland überwacht werden soll. Aber das ist natürlich noch lange kein Frieden. Auf beiden Seiten scheinen die Gesellschaften derzeit kaum bereit zu sein, Kompromisse einzugehen. In den letzten Wochen wurden alte Wunden wieder aufgerissen und viele neue sind dazugekommen. Da wird es schwierig, für eine friedliche Lösung zu werben. Das vielleicht einzig Positive der aktuellen Eskalation ist, dass sie allen die große Gefahr vor Augen geführt hat, die weiter von diesem scheinbar eingefrorenen Konflikt ausgeht. Es darf daher jetzt nicht darum gehen, ihn erneut einzufrieren – er muss gelöst werden, unter Einbeziehung der Menschen, die täglich unter ihm leiden. Denn eigentlich gilt, was die religiösen Führer zuletzt vor drei Jahren gesagt haben: Die Völker von Armenien und Aserbaidschan werden immer Seite an Seite leben, daher gibt es keine Alternative zu Frieden und Kooperation."