"Wie es uns geht? Hat keinen interessiert"
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Zweimal Sommerferien pro Jahr? Keine Hausaufgaben machen – dürfen? Klingt doch nach dem Schüler-Paradies schlechthin. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Jugend ist in der Corona-Pandemie durchaus gestraft. Landesbischof Ralf Meister hat sich jetzt der Diskussion gestellt.
Eine Kirche irgendwo in Norddeutschland. Der Frühherbst kriecht klamm in die Klamotten. Im Kirchenschiff sitzen drei, vier Dutzend klar ergraute Gäste. Die Stimmung irgendwo in bedenkenvoller Hoffnung auf Trost. Vorne am Altar erklingt eine Klage: „Wenn wir uns nicht mehr die Hand geben dürfen, wenn die Begrüßung nur noch ein flüchtiges Hallo ist … Nehmen wir uns dann überhaupt noch wahr?“
Das Setting dieser Szene wirkt eigentlich wenig verstörend. Fortschreitende Formvergessenheit war auch vor Ausbruch der Corona-Pandemie ein oft gehörter Vorwurf an die Jugend. Und doch ist in diesem Moment alles anders. Denn der, der die Sorge an sein Publikum richtet, ist 19 Jahre jung. Der Abiturient Jens Klemm steht hinter seinem Mikrophon im Altarraum der St.-Willehadi-Kirche in Osterholz-Scharmbeck und erlebt sofort etwas, was er sich vor einigen Monaten so sehr gewünscht hätte: Sie hören ihm zu - und zwar alle.
Mehr noch. „Dass Sie ausgerechnet den Handschlag als Einstieg wählen, hat mich doch überrascht“, sagt Landesbischof Ralf Meister hörbar beeindruckt. Er wie auch Klemm haben sich an diesem Abend der Moderation von Superintendentin Jutta Rühlemann anvertraut. Zwischen Klemm und Meister stehen die 29-jährige Kreisjugenddiakonin Janna Eckert und der örtliche Kardiologe und Intensivmediziner Jürgen Heuser als weitere Diskutanten. Sie alle stellen sich der Frage des gastgebenden Loccumer Kreises: „Was wird mit den jungen Leuten – Corona und die Zukunft der jüngeren Generation?“
Klemm hatte es zu Beginn der Runde auf einen so klaren wie schmerzhaften Punkt gebracht. In den ersten Wochen der Pandemie habe sich „keiner dafür interessiert, wie es uns geht“. Über die schlichte Absage des Unterrichts, gar des Verbots der Hausaufgaben hätte sich die Jugend doch freuen sollen. Und überdies habe sie ja nichts auszustehen. In den Fokus rückten Hochbetagte, chronisch Kranke und andere Risiko-Gruppen. Zweifelsohne aus guten Gründen. Aber für Klemm und seine Altersgenossen wohl ein viel zu kurzer Blick.
Denn Klemm wollte gar nicht zwingend feiern gehen, das gilt bis heute. „Ich bin ehrenamtlich aktiv. Ich spiele Orgel.“ Was wird daraus? Wie kann Heranwachsen, das sich Lösen von dem Elternhaus gelingen, wenn die Kinder dieses gar nicht verlassen dürfen? Dieser Frage ging während der knapp zweistündigen, von Rühlemann so nachdenklich wie empatisch moderierten Runde auch Diakonin Eckert eindrücklich nach. Sie selbst hat mitten in der Pandemie ihre neue Stelle notgedrungen „mit angezogener Handbremse“ angetreten.
Jürgen Heuser, Kardiologe im örtlichen Krankenhaus, rückte die besonders komplexe Situation Deutschlands bei der Bekämpfung der Pandemie in den Fokus. „Richtig gute Zahlen haben derzeit nur zwei Formen: Totalitäre Staaten und Inseln“, sagte Heuser mit Blick auf China und Neuseeland. Beides treffe für Deutschland als Demokratie mit acht Anrainerstaaten nicht zu. Umso wichtiger sei die gesamtgesellschaftliche Debatte um die Abwägung der Güter, vor allem aber der Dialog aller Gruppen miteinander. Szenenapplaus aller erhielt der Mediziner bei seinem Hinweis auf die aktuell laufenden Tarifverhandlungen auch für Bediensteten in der Pflege. Er hege hohe Bewunderung für die Arbeit, die diese leisteten. „4,8 Prozent mehr Lohn“ seien da deutlich besser als „Klatschen auf dem Balkon“.
Ob Superintendentin, Abiturient, Diakonin oder Kardiologe – sie alle begrüßten an diesem Abend ausdrücklich die Gründung des Niedersächsischen Ethikrates im Juni dieses Jahres, zu dem auch Landesbischof Ralf Meister gehört. Das elfköpfige Gremium umfasst das gesellschaftliche Leben von Kirche über Politik bis Medizin und hat sich laut Meister insbesondere der Mission verschrieben, keine Randgruppe in der Pandemie unbeachtet zu lassen.
Von ihrer eigenen Not überzeugen mussten Klemm und Eckert an diesem Abend niemanden mehr. Landesbischof Meister pflichtete ihnen unumwunden bei. Was die Engländer „Praise in Pyjama“ nennen, den Verzicht auf den Sonntagsstaat vor dem Fernseh-Gottesdienst, erzeuge vielleicht noch als Originalität ein Schmunzeln. Doch die persönliche Begegnung habe sich in den zurückliegenden Monaten als unverzichtbarer Kitt unserer Gesellschaft erwiesen. „Homeschooling ignoriert die Persönlichkeit des Menschen“, sagte Meister. „Wir werden weder digital geboren noch werden wir so sterben.“ An Klemm richtete Meister allerdings einen klaren Trost. Den Handschlag, „den holen wir uns zurück!“
Dass während des Abends in der Kirche Klemm wohl alleine in seiner Altersgruppe war, quittierte der IGS-Schüler wenig überrascht. Zum einen war die Veranstaltung am heimischen Bildschirm („womöglich auch im Pyjama“) live über die Video-Plattform YouTube zu verfolgen. Zum anderen nütze es wenig, wenn sich die Jugend gegenseitig ihr Leid klage. Wichtig, so auch Eckert auf Nachfrage im Anschluss an die Debatte, sei „der Dialog über die Generationsgrenze hinweg“.
Die Aufzeichnung der Veranstaltung ist weiterhin auf YouTube abrufbar. Den Link finden Sie hier (ab ca. Min.1:10:00)
Rebekka Neander / Themenraum der Landeskirche