Die persönliche Begegnung zählt
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Einheit ja, Gleichheit nein - auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es Unterschiede zwischen ehemals ost- und westdeutschen Städten und Gemeinden - erzählen zwei Pastorinnen. Die Westdeutsche zog 2011 nach Thüringen, die andere kam 2002 zum Studieren aus Sachsen nach Niedersachsen.
Damaris Grimmsmann ist 1983 in Plauen geboren und im Erzgebirge aufgewachsen. Für das Studium zog sie nach Göttingen und lebt nun mit ihren drei Kindern (9, 4 und 0 Jahre) und ihrem Mann in Ueffeln im Osnabrücker Land, wo sie sich mit ihm die Pfarrstelle der Marienkirchengemeinde teilt.
Beate Marwede ist 1961 in Einbeck geboren und in Göttingen aufgewachsen, wo sie auch studiert hat. Als die Mauer fiel, war sie im Entsendungsdienst in St. Andreasberg, kaum 20 Kilometer von der innerdeutschen Grenze entfernt. 2011 bekam sie die Stelle als Superintendentin im Kirchenkreis Meiningen in Thüringen: Ihr Mann zog mit ihr, die drei Kinder waren schon ausgezogen.
Frau Marwede, Frau Grimmsmann, wie geht es Ihnen in Ihrer neuen Wahlheimat?
Marwede: „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal ,drüben‘ lande. Wenn mir das jemand früher erzählt hätte, hätte ich das verrückt gefunden. Heute fühle ich mich hier in Meiningen sehr wohl. Auch wenn ich gerade für eine zweite 10-jährige Amtszeit wiedergewählt wurde, würde mich immer hüten zu sagen: ,Ich verstehe Dich oder Sie vollkommen‘ - das tun Westdeutsche nicht, wir haben einfach nicht diese Erfahrungen gemacht, wie ostdeutsche Bürger*innen: Der unterdrückende Staat, die Bespitzelungen, dann die oftmals gebrochenen Berufsbiografien nach der Wende nach der Wiedervereinigung, die doch eher ein Anschluss an den Westen war, als wirklich etwas gemeinsames Neues – da kann ich immer nur staunend zuhören.“
Grimmsmann: „Ich fühle mich sehr wohl im Osnabrücker Land. Allerdings möchte ich nicht in Ost und West denken, ich würde mir wünschen, dass wir das ablegen können. Das ist sicherlich eine Generationenfrage - für mich gibt es diese Grenze gar nicht mehr: ich war sieben, als die Mauer fiel und habe also die allerlängste Zeit meines Lebens im vereinigten Deutschland gelebt. Aber ich merke, dass es für ältere Generationen immer noch eine Rolle spielt, dass diese Linie im Kopf noch da ist. Meine Eltern halten zum Beispiel jedes Mal, wenn sie uns besuchen, an der Raststätte in Helmstedt an, trinken einen Kaffee und überqueren die ehemalige Grenze ganz bewusst – mit der Freude, dass das nun möglich ist und man einfach weiterfahren kann.
Das Thema Wiedervereinigung werde ich in der Predigt am Sonntag aufnehmen. Freiheit und Erntedank passen meiner Meinung nach gut zusammen. Und bei uns zu Hause werden wir uns kurz ganz bewusst erinnern und dankbar sein, dass die Mauer gefallen ist - schließlich gäbe es unsere Familie sonst nicht."
Wie schwer oder leicht fiel Ihnen das Einleben?
Grimmsmann: „Nicht schwer – das Studium bedeutete einen neuen Lebensabschnitt, der anderswo nicht viel anders ausgesehen hätte. Nach Göttingen zu gehen war zwar eine bewusste Entscheidung – ich wollte nicht in Leipzig studieren, wo meine Eltern zu dem Zeitpunkt wohnten und Göttingen hatte einen guten Ruf. Aber ob nach Westen oder woanders hinzuziehen, spielte keine Rolle. In meinem Abijahrgang gab es viele, die in den „Westen“ gegangen sind. Göttingen hat für mich einfach gepasst: mein heutiger Mann hat damals dort studiert, er kommt aus Lingen. Kennengelernt hatten wir uns 2000 bei einer Jugendfreizeit – seine und meine Gemeinden sind Partnergemeinden und tauschen sich regelmäßig aus. Wir sind also quasi ein „Einheitspaar“, das es ohne den Mauerfall nicht gegeben hätte.“
Marwede: „Ich kannte Meiningen schon als Touristin – ich bin ja sozusagen grenznah aufgewachsen und hatte nach der friedlichen Revolution ein großes Bedürfnis, die ,andere Seite‘ kennenzulernen. Mit meinem Mann habe ich viele Ausflüge mit dem Kajak gemacht, schon etwas Land und Leute kennengelernt. Bevor ich mich aber auf die Superintendenten-Stelle in Thüringen bewarb, war mir wichtig zu wissen, ob eine Westdeutsche akzeptiert würde. Und da hieß es immer wieder: Nicht die Herkunft sei entscheidend, sondern die Qualität der Arbeit. Und so war es auch: ich wurde sehr herzlich aufgenommen und im Alltag spielt es kaum eine Rolle, wo ich herkomme.
Das Wichtige ist, denke ich, die Einstellung, mit der man auftaucht: Anfangs habe ich erstmal ganz viel zugehört – auch wenn es schon 2011 war und sich natürlich schon viel getan hatte seit 1989. Ich habe immer wieder gesagt: ,Bitte, erzählen Sie mir, wie es war, lassen Sie mich teilhaben‘. Das hat gut geklappt – und es war oft sehr bewegend. Kirchen boten in der DDR ja oft Raum für freieres Denken, sie waren ein bisschen ein Sammelbecken für viele, die in der DDR unzufrieden waren. Sie ahnten, dass Dinge aus ihren Treffen auch nach außen getragen wurden, ließen sich aber nicht beeindrucken.“
Gibt es Unterschiede, die Ihnen so vorher nicht klar waren?
Marwede: „Manches musste ich erstmal lernen, zum Beispiel, dass ein Schweigen bei einer Sitzung nicht immer eine stille Zustimmung signalisiert. Oder, dass gerade Menschen meiner Generation oft sehr zurückhaltend sind, ihre Kompetenzen herauszustellen. Schade, wenn sie dann übersehen werden. Viele haben nach 1990 bewiesen, dass sie Krisensituationen bewältigen können, mit Einfallsreichtum und Fleiß Vieles aufgebaut haben. Die Rede vom ,Jammer-Ossi‘ ist wirklich Quatsch, es gibt so viele, die schnell und kräftig Dinge anpacken.“
Grimmsmann: „Ich denke, hier im Osnabrücker Land hat man noch das Gefühl, zu einer Volkskirche zu gehören. Dass die Menschen hier ihre Kinder taufen lassen, gehört einfach dazu, die Konfirmation oder Kommunion auch, bei Beerdigungen können alle das Vater unser mitsprechen, das kann ich voraussetzen. In Sachsen ist das nicht der Fall. Dort entscheidet man sich ganz bewusst für eine Kirchenmitgliedschaft – das passiert nicht wie hier nebenbei. Das klassische Beispiel ist ja die erste Gehaltsabrechnung, bei der man merkt: Man ist ja noch in einer Kirche. In Sachsen hat es daher mehr mit einem aktiven Bekenntnis zu tun. Das hat mich in Ueffeln überrascht, wie sehr Kirche hier zum öffentlichen Leben gehört und dass die Meinung der Kirche auch angefragt wird. Dass ich 2015, als besonders viele Geflüchtete nach Deutschland kamen, einfach ein großes Banner an den Kirchturm hängen konnte mit der Aufschrift „Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen“ (Mt. 25) war keine Frage. Ich kann mir vorstellen, dass so eine Aktion in Sachsen zumindest zu Diskussionen geführt hätte.“
Marwede: „Die Gemeinden im ehemaligen Ostdeutschland sind von der Personenzahl oft kleiner, die Gebiete aber größer. Sieben Predigtorte schrecken hier keinen. Der Kirchenkreis Meiningen zählt eher zum volkskirchlich geprägten Süden der Evangelischen Kirche Mitteldeutschland. Doch es ist anders, als ich es aus Südniedersachsen kannte. In Meiningen selbst liegt der Anteil der Mitglieder bei etwa 22 Prozent, schwankt im gesamten Kirchenkreis aber zwischen 13 und bis zu 70 Prozent. Das heißt: Abgesehen von einer kleinen Gruppe Katholiken, Freikirchlern und Muslimen gehört die Mehrheit der Bevölkerung keiner Religionsgemeinschaft an#. Was nicht gleichbedeutend damit ist, dass sie religiös uninteressiert sind.
So ist der Gedanke der ,missio‘, die Frage, wie Gottes Wort unter die Leute zu bringen ist, hier stärker. Ich kann nicht davon ausgehen, dass religiöse Begriffe und kirchliche Abläufe bekannt sind. Neulich fragte mich jemand: ,Kann ich eigentlich als Atheist in den Gottesdienst gehen?‘ Ich sagte: ja, natürlich! Aber dann ist es gut, wenn ihn jemand durch den Gottesdienst begleitet.
Es ist wichtig, eine angemessene Sprache zu finden, hier habe ich viel gelernt. Bei der Wiedereinweihung unseres Volkshauses zum Beispiel, wollte der Bürgermeister gern in irgendeiner Form auch die Kirche dabei haben. Im Talar zu predigen, wäre mir aber übergriffig erschienen, damit hätten Viele nichts anfangen können. Also habe ich in zivil ein geistliches Grußwort zum Segen gesprochen und gesagt: Der Segen braucht aber eine Antwort, die Zustimmung und das ,Okay‘ der Anwesenden – und das ist ein ,Amen‘. Es war ein tolles Gefühl, als dann alle wirklich laut ,Amen‘ sagten. Die Offenheit ist da, wir dürfen uns nicht hinter Kirchenmauern verstecken.“
Grimmsmann: „Ich denke, in Sachen Mission können wir ganz viel von den östlichen Gemeinden lernen – die haben viel Erfahrung damit, wie man in einer Minderheitssituation Menschen von Gott erzählt. Die sind uns da eine ganze Ecke voraus.
Ich denke auch, dass wir ganz viel durch persönliche Begegnung erreichen können. Deswegen bin ich auch ein solcher Fan kirchlicher Partnerschaftsgemeinden: Kirche sucht doch das Gemeinsame. Wie gut wäre es, wenn diese Partnerschaften erneuert würden, es Jugendaustausch gäbe! Darin läge ein großer Schatz.“