Die Fragen des Lebens
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Wer wird noch künstlich beatmet, wenn die Krankenhäuser den Ansturm der Covid-19-Patienten nicht mehr bewältigen können? Wer darf leben, wer muss sterben? Was unmenschlich klingt - oder zumindest wie eine Theoriedebatte - ist in Italien im Frühjahr 2020 bittere Realität geworden. Der Mangel an Beatmungsgeräten machte es nötig, dass Ärztinnen und Ärzte in Bergamo und Mailand Patienten nach Überlebenschancen einteilen mussten: Viruserkrankte, deren Behandlung weniger aussichtsreich war, bekamen keines der wenigen Betten in der Intensivstation. Am Ende, so heißt es aus der Lombardei, trafen Mediziner im Schnellverfahren Entscheidungen über Behandeln und Nichtbehandeln, über Leben und Sterben. Das französische Wort Triage - auf deutsch: Sortierung - gibt diesem furchtbaren Geschehen einen Namen.
Derart existenzielle Entscheidungen treffen Mediziner im Idealfall nicht aus dem Bauch heraus. Schon im Studium lernen sie, welche ethischen Abwägungen ihrem Handeln über die rein medizinischen Fragen hinaus zugrundeliegen sollten. Und in vielen Kliniken gibt es Ethik-Komitees, die interne Leitlinien für Extremsituationen verfassen. Doch im täglichen Tun bleibt oft wenig Zeit zur Reflexion. Umso dankbarer sind viele Ärztinnen und Ärzte über Orte, an denen sie wissenschaftlich fundiert und im Austausch mit anderen Praktikern nachdenken können über die Ethik ihres beruflichen Alltags. Das Zentrum für Gesundheitsethik (ZfG), angesiedelt im Hanns-Lilje-Haus an der hannoverschen Marktkirche, bietet genau diese Kombination aus Theorie und Praxis - und das seit nunmehr 25 Jahren. Aufgrund der Pandemie musste eine offizielle Feierstunde ausfallen. Doch im von der Landeskirche finanzierten ZfG war seit Beginn der Pandemie ohnehin keine Zeit für Sentimentalitäten.
Gefragt waren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zentrums vielmehr als fachliche Berater, etwa bei der Formulierung von klinikinternen Leitlinien für den Ernstfall. „Da haben wir erstaunlich viele Anfragen bekommen“, sagt Medizinethikerin Julia Inthorn, die das ZfG seit Oktober 2018 leitet. Zwar waren deutsche Krankenhäuser bislang nicht Schauplatz solch dramatischer Engpässe wie in Italien. Grund dafür ist der vergleichsweise milde Verlauf der Krankheitswelle: Auch wenn sie hierzulande bereits mehr als 9.000 Tote gefordert hat, können die schweren Fälle mit den vorhandenen Intensivbetten bislang weitgehend problemlos behandelt werden. Doch ob das so bleibt, kann niemand mit Gewissheit sagen. Umso wichtiger ist die Arbeit von Menschen wie Christina Torrey. Die Pastorin arbeitet als Krankenhausseelsorgerin in Rotenburg/Wümme und ist dort Mitglied des klinischen Ethik-Komitees.
Da sitzen dann Ärzte, Seelsorger, Ethiker, wirtschaftlich Verantwortliche und besprechen Einzelfälle - etwa am Lebensende, wenn jemand nicht mehr sprechen kann, künstlich beatmet wird und keine Patientenverfügung vorliegt. Wie lange soll das fortgesetzt werden? Nützt es dem Patienten noch? Oder wäre das Sterben die bessere Alternative? „Da geht es dann auch um das Objektivieren, nicht nur um Meinungen“, sagt Torrey. „Wird hier wirklich eine ethische Frage diskutiert? Oder sind menschliche Befindlichkeiten im Spiel?“ Das müsse man klären - um auf der richtigen argumentativen Ebene zu reden. Das ZfG bietet kontinuierlich Schulungen und Workshops für die Mitglieder klinischer Ethik-Komitees an, um die Moderation zu trainieren und Abwägungsprozesse bereits vor der ersten realen Falldiskussion einzuüben.
Dazu spielten ethische Prinzipien immer eine zentrale Rolle: Wie kann es gerecht zugehen? Was schadet, was nützt mehr? „In solchen Fällen diskutiert das Ethik-Komitee unter anderem mit Angehörigen und Ärzten“, sagt Torrey. Oft moderiere jemand aus der Klinikseelsorge. „Wenn dann eine Empfehlung ausgesprochen wird, ist es wichtig, dass alle wissen: Wir haben uns Zeit genommen und ernsthaft um die Sache gerungen.“ Entscheiden müssen am Ende ohnehin jene, die juristisch für die betroffene Person Verantwortung tragen.
In solch bedrückenden Prozessen Menschen zu begleiten, ist eine Herausforderung - aber für Christina Torrey zugleich eine Lebensaufgabe: „Für mich persönlich ist es total beglückend, in diesem Bereich als Seelsorgerin zu arbeiten“, sagt die 37-Jährige. „Ich begleite Menschen bei Fragen des Leidens, von Tod und Sterben. Dazu haben wir als Kirche echt etwas zu sagen - und es ist unheimlich wichtig, dabei an ihrer Seite zu stehen.“
Ein weiteres Standbein des Zentrums für Gesundheitsethik sind wissenschaftliche Fachtagungen zu Diagnostik bei ungeborenen Kindern, Impfungen von Kita-Kindern, Sterbehilfe, Palliativmedizin und vielem mehr. Und wenn etwa der Deutsche Bundestag über ein neues Gesetz zur Sterbehilfe debattiert, sammelt das an der Marktkirche gelegene Zentrum Argumente und Sachstände und formuliert eine Position, die aber nicht als kirchliche Position missverstanden werden dürfe. „Wir alle äußern uns als Christen“, sagt Julia Inthorn. „Das ist das Besondere der evangelischen Ethik - sie fordert immer dazu auf, eigenständig Verantwortung zu übernehmen.“ Das gehe nicht ohne eigene wissenschaftliche Forschung: „Wer keine eigenen Daten ermittelt, kann sich kaum fundiert äußern.“ Neben der Leiterin arbeiten drei weitere wissenschaftliche MitarbeiterInnen und eine studentische Hilfskraft im ZfG, dazu kommen zwei administrative Mitarbeiter.
Ein mögliches aktuelles Forschungsprojekt könnte aus einer Umfrage entstehen, das seit einigen Wochen auf der ZfG-Website zu finden ist. Da wird gefragt, welche Erfahrungen Menschen im Shutdown, mit Homeoffice und Mund-Nasen-Schutz, gesammelt haben. „Wir wollen die Ergebnisse sammeln und dann auch gezielt Personengruppen befragen, die besonders von Corona betroffen sind“, sagt Inthorn. Der Wissenschaftlerin ist es wichtig, dass der gesellschaftliche Abwägungsprozess fair und transparent erfolgt: „Es muss immer die Möglichkeit geben, auch eine abweichende Meinung zu haben. Aber die Diskussion darf eben auch nicht hinter bestimmte Grundregeln zurückgehen, etwa die Menschenrechte oder das Anerkennen von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen.“ Ganze Gesellschaften stellten gerade mit Erschrecken fest, welche Freiheitsrechte zeitweise eingeschränkt werden, sagt Inthorn. „Dahinter stecken schwierige Abwägungsprozesse, bei denen es keine allgemeingültigen Letztentscheidungen geben kann.“ Immer neue Antworten auf die Fragen des Lebens finden - genau darum gehe es in der Ethik.
Alexander Nortrup