Startseite Archiv Tagesthema vom 03. Juni 2020

Eine Eisdiele als Fluchtpunkt: Behinderteneinrichtungen in der Coronakrise

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Wegen Corona dürfen sie seit zwei Monaten nicht mehr arbeiten: Menschen mit Behinderung, die in Werkstätten arbeiten und in Wohngruppen leben. Doch nun können Angehörige wieder zu Besuch kommen, und die Arbeitsstätten öffnen allmählich wieder.

Mit Maske, Desinfizierung und Abstand können Gottesdienste wieder gefeiert werden. Bild: Jens Schulze

Sie pflegen eigentlich mit Hingabe Beete und Bäume, pflastern Wege und beflocken Fußballtrikots. Doch die Beschäftigten der Celler Allertal-Werkstatt dürfen wegen der Corona-Pandemie seit Wochen ihre Arbeitsstätten nicht betreten, dazu Wohngruppen und Familien nicht verlassen. Sie alle haben eine körperliche oder geistige Behinderung. Und häufig einen enormen Bewegungsdrang, erzählt Susanne Kok, die eine Wohngruppe in der Celler Lobetalarbeit betreut, zu der die Werkstatt gehört.

Nun seien viele Hundert Menschen 24 Stunden am Tag auf engstem Raum zusammen. "Diese Situation ist hart und tut uns allen sehr leid. Die sozialen Kontakte, das Umarmen, das fehlt enorm." Dabei sei menschliche Nähe ein wesentlicher Faktor in der diakonischen Lobetalarbeit, sagt Kok.

Rund 29.000 Menschen mit Behinderung sind in Niedersachsen in mehr als 200 Werkstätten beschäftigt. Nach der aktuellen niedersächsischen Corona-Verordnung dürfen sie seit Ende Mai unter strengen Auflagen wieder öffnen. So sollen auch in Celle ab dem 8. Juni wieder die Werkstatt und die Tagesförderstätte geöffnet werden - allerdings lässt der Erlass dies zunächst nur für diejenigen zu, die nicht auf dem Gelände oder dort allein wohnen. Die große Mehrheit der knapp 800 Erwachsenen und knapp 40 Kinder mit Behinderungen wohnt betreut auf dem Gelände und bleibt somit außen vor.

Die Lage bleibt schwierig - umso wichtiger sei es gewesen, sie nicht eskalieren zu lassen, sagt Kok: "Unser hauseigener psychologischer Dienst ist die gesamte Zeit über auf Konflikte vorbereitet - die es aber kaum gegeben hat. Vielleicht liegt das auch daran, dass wir den Bewohnern so viel Abwechslung wie möglich verschafft haben."

Denn gleich zu Beginn der Schließung habe die Einrichtung Paletten, Farben und weiteres Material gekauft, und dann hätten die Bewohner vielfach ganz selbstständig Möbel gebaut, den Garten umgebuddelt oder eine Feuerstelle gestaltet. Zudem seien Betreuer mit ihnen in Kleinbussen zu Burger-Restaurants oder zur Eisdiele gefahren. So hätten viele das Gelände unter Aufsicht zumindest eine Zeitlang verlassen. "Natürlich durften sie nicht aus dem Auto aussteigen. Aber es hat allen trotzdem viel Freude gemacht."

Die Entscheidung des Landes, Einrichtungen wie Lobetal gewissermaßen kaltzustellen, können die Verantwortlichen trotz aller individuellen Härten nachvollziehen: "Wir haben die Gefährdungslage individuell analysiert und sind auf 230 Hochrisiko-Patienten unter den Bewohnern gekommen", sagt Michael Spiller, der den Lobetal-Krisenstab leitet. In jedem Haus und jeder Gruppe betreffe das mindestens eine Person: "Deshalb halten wir uns strikt daran, Mitarbeitende nicht in mehreren Bereichen einzusetzen." Dienste tauschen oder Aushelfen, das gehe aktuell nicht.

Angesichts der Isolation der Bewohner sind das größte Risiko in Lobetal die knapp 1.300 Betreuer, die täglich auf das Gelände kommen und so das Coronavirus von außen einschleppen könnten. Homeoffice ist nun einmal nicht möglich in einer Behinderten-Einrichtung. "Wir haben schon vor der landesweiten Regel das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes per Dienstanweisung zur Pflicht erhoben", sagt Spiller.

Das Besuchsrecht ist inzwischen gelockert worden, eine Person pro Bewohner darf jeweils zu Besuch kommen. Zwischen beiden steht ein Tisch von zwei Metern Breite. Und niemand darf den anderen anfassen. Weil die Eltern vieler Bewohner aufgrund ihres Alters zur Risikogruppe gehörten, seien Besuche aktuell oftmals nicht anzuraten, sagt Spiller. Aber die Einrichtung biete sie an, und die Nachfrage sei groß.

Auch die Werkstatt der Diakonischen Betriebe in Kästorf bei Gifhorn ist - wie praktisch landesweit alle Arbeitsstätten für Menschen mit Behinderung - seit März zwangsweise geschlossen. Nur ein minimaler Notbetrieb mit wenigen Teilnehmern findet statt. "Das Betretungsverbot war das Bitterste in dieser Krise", sagt Geschäftsführerin Gabriele Merkel. "Denn wir haben hier im Grunde sehr komfortable Räume. Dennoch durften die zwei Häuser weiter wohnenden Beschäftigten nicht an ihren Arbeitsplatz kommen, der für sie persönlich oft große Bedeutung hat."

In der Werkstatt arbeiten etwa 35 Menschen mit seelischen Behinderungen. Davon sind zehn Personen im Berufsbildungsbereich tätig, wo sie - gefördert von der Arbeitsagentur - für den ersten Arbeitsmarkt fit gemacht werden sollen.

Besonders wichtig war es Merkel zufolge, die psychischen Beeinträchtigungen der Beschäftigten gut im Blick zu behalten: "Der Verlust der Tagesstruktur musste aufgefangen werden. Und es war wichtig, dass die Leute keine Ängste entwickeln, etwa beim Busfahren." Es sei gelungen, an den Beschäftigten dranzubleiben: "Wir wussten immer, ob etwas kippt“.

Alexander Nortrup